Energiewende-Barometer 2024: Umdenken in der Energiepolitik dringend erforderlich
IHK: Energiepolitik belastet Wettbewerbsfähigkeit der Saarwirtschaft weiterhin überdurchschnittlich
Die IHK-Organisation hat daher auch in diesem Jahr bundesweit wieder Unternehmen zu den Chancen und Risiken der Energiewende befragt. Das Ergebnis aus rund 3.300 Antworten: nach wie vor betrachtet die Mehrheit der Unternehmen in Deutschland die Energiewende als Belastung und als eine Gefahr für die eigene Wettbewerbsfähigkeit. Deshalb hat sich auch vor allem der Abwanderungstrend bei den Industrieunternehmen verfestigt. Aktuell erwägen vier von zehn Industriebetrieben, ihre Produktion am Standort Deutschland wegen der Energiesituation einzuschränken oder ins Ausland zu verlagern. Bei den Industrieunternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitern denken inzwischen sogar mehr als die Hälfte darüber nach. Das zeigt, das Vertrauen der deutschen Wirtschaft in die Energiepolitik – insbesondere in der Industrie - ist stark beschädigt. Offenbar ist es der Politik bisher nicht gelungen, den Unternehmen eine Perspektive für eine zuverlässige und bezahlbare Energieversorgung aufzuzeigen. Unabdingbar ist deshalb ein Umdenken in der Energiepolitik, weg von Verboten und erdrosselnder Mikrosteuerung hin zu marktwirtschaftlichen Anreizen.
Seit Beginn der Erhebung im Jahr 2012 wird die Energiewende von der deutschen Wirtschaft insgesamt überwiegend skeptisch beurteilt. Lediglich in den Jahren 2016 und 2017 war die Bewertung positiv. Über die Branchen hinweg überwogen damals die Chancen die Risiken. Diese Entwicklung kehrte sich 2018 um und der allgemeine Barometerwert, der die Auswirkungen der Energiewende auf die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen auf einer Skala von 100 „sehr positiv“ bis -100 „sehr negativ“ angibt, liegt seither im negativen Bereich. Aktuell bewerten die Unternehmen die Energiewende über alle Branchen hinweg mit -19,8 Zählern. Der im Vorjahresvergleich leicht bessere Barometerwert beruht dabei vor allem auf den Rückmeldungen der Dienstleister.
Ein wesentlicher Aspekt für die negativen Einschätzungen der Unternehmen sind zudem die energiepolitischen Folgen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Deshalb stellt 2022/23 einen Kipppunkt bei der Einstellung der Unternehmen zur Energiepolitik dar. Der Krieg in der Ukraine und die Energiepreiskrise haben grundsätzlich etwas verändert.
Saarland weiterhin deutlich kritischer
Wie schon in den Vorjahren bewerten die Saar-Unternehmen die Auswirkungen der Energiewende auf ihre Wettbewerbsfähigkeit insgesamt deutlich kritischer als im Bund. Mit -45,2 Zählern wurde sogar ein neuer Tiefpunkt erreicht. Dies liegt nicht zuletzt auch an der negativen Einschätzung der Energiewende durch die Saar-Industrie. Offensichtlich geht es in vielen Industriebetrieben inzwischen um die nackte Existenz. Dies ist besonders bedrohlich für den Wirtschaftsstandort und gefährdet letztlich das wirtschaftliche Überleben des Saarlandes. Die Politik in Bund und Land ist daher dringend gefordert, umzusteuern und die Unternehmen rasch und umfänglich zu entlasten, statt ihnen noch weitere Energiewendekosten aufzubürden. Denn die sind mittlerweile zu einer Hypothek für den Transformationsprozess zu einer klimaneutralen Wirtschaft geworden.
Hohe Energiepreise hemmen Investitionen in der Industrie
Besorgt schauen insbesondere die Industrieunternehmen weiterhin auf die Entwicklung der Energiepreise. Überall fahren sie ihre Investitionen wegen der hohen Energiekosten zurück. Auffällig betroffen von dieser Zurückhaltung sind Investitionen in Kernprozesse, d. h. zentrale Ersatz- oder Erweiterungsinvestitionen. Sie werden von 39 Prozent aller Industriebetriebe in Deutschland zurückgestellt. Wenn aber die Unternehmen selbst nicht mehr in ihre Kernprozesse investieren, kommt das letztlich einem Rückbau auf Raten gleich. Bedenklich ist auch die Situation bei den Klimaschutzinvestitionen. Sie sind am zweitstärksten von den hohen Energiekosten betroffen und werden bundesweit von einem knappen Viertel der Industrieunternehmen gekürzt. Etwas weniger betroffen sind zumindest die Investitionen in Forschung und Innovation. Aber auch hier fahren bundesweit knapp 20 Prozent der Industriebetriebe ihre Investitionen zurück. Insgesamt sehen deshalb 60 Prozent der Industriebetriebe ihre eigene Wettbewerbsfähigkeit in Gefahr.
Was die Wirtschaft von der Politik erwartet
Angesichts der nach wie vor zahlreichen Baustellen der Energiepolitik von den Strompreisen bis hin zum Netzausbau muss die Politik schnellstmöglich gegensteuern, um der Wirtschaft eine Perspektive in Deutschland zu erhalten.
Die IHK-Organisation hat deshalb zehn Punkte für eine erfolgreiche Energiewende und einen stärkeren Wirtschaftsstandort erarbeitet:
1. Steuern und Abgaben auf Strom senken
Ein weit reichender Umstieg auf Strom ist ein erklärtes Ziel der Energiewende. Die Transformation gelingt aber nur, wenn Unternehmen ihre Prozesse zu wettbewerbsfähigen Kosten auf Strom umstellen können. Daher sollte Strom im Vergleich zu fossilen Energieträgern günstiger sein und nicht durch zusätzliche Steuern, Abgaben und Umlagen verteuert werden. Als gesamtgesellschaftliche Aufgabe gehören die verbleibenden Umlagen und Abgaben in den Bundeshaushalt. Die im Strompreispaket beschlossene und in der Wachstumsinitiative verstetigte Reduzierung der Stromsteuer für das produzierende Gewerbe sollte die Politik konsequenterweise auf alle Branchen ausweiten.
2. Netzausbau beschleunigen, Netzentgelte mit Haushaltsmitteln senken
Der Anteil der Netzentgelte an den Energiekosten wächst seit Jahren – ein weiterer Anstieg ist entgegen anders lautender politischer Einschätzungen als Folge der Modernisierung und des Ausbaus der Netzinfrastruktur mehr als wahrscheinlich. Ein vergleichbarer Trend zeichnet sich darüber hinaus für die Wärme-, Wasserstoff- und CO2-Netze ab.
Angesichts des ohnehin bereits bestehenden Preisnachteils im internationalen Wettbewerb gilt es, die Netzausbaukosten durch effiziente Verfahren und mithilfe des bereits vorgesehenen Bundeszuschusses zu reduzieren. Die Durchleitung erneuerbaren Stroms aus Direktlieferverträgen sollte mittels reduzierter Netzentgelte besonders attraktiv ausgestaltet werden. Zudem darf die Bereitschaft eines Betriebs, seinen Strombezug je nach Verfügbarkeit flexibel zu gestalten, nicht zu höheren Netzentgelten führen.
3. Pakt für Beschleunigung umsetzen
Extrem lange Planungs- und Genehmigungsverfahren bremsen aus Sicht der Unternehmen Wachstum, Innovation und Veränderungsgeschwindigkeit in Deutschland. Das gilt für die schnelle Transformation zu einer klimaneutralen Industrie ebenso wie für den flächendeckenden Breitbandausbau, für die Entwicklung attraktiver Städte und Gemeinden sowie Sanierung und Ausbau von Straßen, Schienen und Wasserwegen. Die schleppenden Verfahren erschüttern bei Unternehmen zunehmend auch das Vertrauen in die Politik.
Am 6. November 2023 haben Bund und Länder dieses Problem im sogenannten Beschleunigungspakt aufgegriffen und zahlreiche Maßnahmen beschlossen, mit denen sie das "Deutschland-Tempo" erreichen wollen. Anfang Juni 2024 stellt der
DIHK-Beschleunigungsmonitor
aber fest, dass mit der Umsetzung der ersten Maßnahmen nur sehr zögerlich begonnen wird.
Durch die vielen einzelnen Beschleunigungsgesetze mit eng begrenzten Anwendungs-bereichen, z. B. für Windenergie, Wasserstoff oder Übertragungsnetze, entsteht zudem ein stark fragmentiertes Genehmigungsrecht. Die Investitionsvorhaben zur Transformation der Wirtschaft sind aber häufig nicht auf die Nutzung eines Energieträgers oder einer Anlagenart beschränkt. So werden viele der Verfahrensbeschleunigungen ins Leere laufen. Die Verfahrensbeschleunigungen sollten deshalb - wie im Bund-Länder-Pakt beschlossen - generell für alle Zulassungsverfahren eingeführt werden.
4. Ausbau erneuerbarer Energien auf Investitionsförderung umstellen
Erneuerbare Energien zu wettbewerbsfähigen Preisen sind für den Wirtschaftsstandort Deutschland von zentraler Bedeutung. Erforderlich ist daher eine erhebliche Beschleunigung beim Ausbau der erneuerbaren Energien.
Gleichzeitig ist das aktuelle Förderregime im EEG mit hohen Kosten verbunden, weil erneuerbare Energien unabhängig von Nachfrage und Infrastruktur sowie ohne Rückbindung an Marktsignale zugebaut werden. Anstelle einer dauerhaften staatlich garantierten Fest- und Mindestvergütung sollten einmalig Investitionen in erneuerbare Energien belohnt werden. Daher ist eine Investitionskostenförderung einer Betriebskostenförderung vorzuziehen. Die DIHK hat mit der
StromPartnerschaft
einen konkreten Vorschlag erarbeitet, um durch einen Investitionszuschuss und eine Reduzierung der Netzentgelte Investitionen in erneuerbare Energien zu beschleunigen.
5. Investitionen in die Transformation fördern - aber richtig
Die Transformation der deutschen Wirtschaft erfordert neben verlässlichen Rahmen-bedingungen und wettbewerbsfähigen Energiepreisen hohe Investitionen der Betriebe in den Umbau ihrer Prozesse und Infrastrukturen. Die Transformation gelingt nur mit privaten Investitionen, die einen Großteil der Anpassung finanzieren müssen. Um die notwendigen Investitionen für energie- und ressourcenoptimierte Prozesse und Anlagen, die Erschließung erneuerbarer Prozesswärme oder die energetische Gebäudeoptimierung schultern zu können, bedarf es kluger Investitionsanreize. Dabei ist wichtig, dass den Unternehmen diese Mittel auch langfristig kalkulierbar zur Verfügung stehen. Insofern sind steuerliche Transformationsanreize den „klassischen“ Förderprogrammen vorzuziehen. Förderprogramme sind in der Regel sehr komplex, bürokratisch und von unsicheren Mittelzuweisungen abhängig.
6. Netzanschlüsse schnell und bedarfsgerecht bereitstellen
Unternehmen sollten Netzauskünfte und Netzanschlussbegehren überall digital und zugleich bundeseinheitlich beantragen können und binnen einer Frist von maximal acht Wochen eine Rückmeldung zu ihrem Anschlussbegehren erhalten. Ziel sollte sein, Unternehmen schnell Planungssicherheit für Investitionen zu geben.
Immer mehr Vorschriften verpflichten die Betriebe zur Installation von PV-Anlagen, zum Ausbau von Ladeinfrastruktur oder zur Installation von Wärmepumpen. Gleichzeitig lassen die vorhandenen Netzkapazitäten deren Anschluss häufig nicht zu. Insofern sollten solche Vorschriften immer auch die Kapazitäten der Netze berücksichtigen und keine undifferenzierten Ausbauverpflichtungen vorgeben. Denn das verschwendet Ressourcen und kann nicht im Sinne der Nachhaltigkeit sein.
7. Kein Goldplating bei Abwärme, keine übermäßige Regulierung bei Energieeffizienz
Die Steigerung der Energieeffizienz liegt im Eigeninteresse der Unternehmen. Denn so können sie ihre betrieblichen Klimaschutzziele erreichen und durch die Vermeidung von Energiebezug Kosten sparen. Über die europäischen Standards hinausgehende Anforderungen bei Energieaudit- und -managementsystempflichten sowie bei der Vermeidung und Wiederverwendung von betrieblicher Abwärme stehen in keinem angemessenen Aufwand-Nutzen-Verhältnis und sollten vermieden werden. Die Berücksichtigung relevanter betrieblicher Abwärme ist ohnehin Bestandteil der vorgeschriebenen Energieaudits bzw. -managementsysteme – das sollte als Nachweis gegenüber staatlichen Stellen ausreichen. Die umfangreichen und undifferenzierten Nachweis- und Offenlegungspflichten für betriebliche Maßnahmenpläne und Abwärmepotenziale bedeuten weitere, unnötige Bürokratie und sollten abgeschafft werden, insbesondere wenn sie betriebliches Know-how oder sicherheitsrelevante Informationen betreffen.
8. Importstrategie für Wasserstoff glaubwürdig machen
Viele Unternehmen brauchen Wasserstoff, um ihre Transformationsziele zu erreichen – sie alle sollten daher auch die Chance haben Wasserstoff zu beziehen. Der Großteil des in Deutschland benötigten Wasserstoffs wird über Importe gedeckt werden müssen. Statt Reisediplomatie ist deshalb vor allem eine glaubwürdige Importstrategie notwendig.
Der regulatorische Rahmen sollte so ausgestaltet werden, dass Wasserstoff als Energieträger und Rohstoff zügig, in großen Mengen und zu tragbaren Kosten beschafft werden kann. Essenziell ist der mit dem Markthochlauf des Wasserstoffs verbundene Infrastrukturausbau. Ob leitungsgebundener Transport aus Lieferländern oder „H2-ready“ LNG-Infrastruktur - in jedem Fall ist eine schnelle Umsetzung einer Basisinfrastruktur quer durch Europa nötig. Wo es keine Pipelines gibt, braucht es realisierbare Transportalternativen über Wasser und auf dem Land mit regionalen Versorgungsoptionen.
Beim Aufbau eines funktionierenden Wasserstoffmarkts kommt der EU eine zentrale Rolle zu. Eine gemeinsame Beschaffungsstrategie für Wasserstoff, die die Vermeidung neuer Abhängigkeiten von einzelnen Zulieferregionen sicherstellt, ist sinnvoll - Leitbild ist die diversifizierte europäische Gasbeschaffung.
9. Perspektive für Carbon-Management geben
Die Energiewende wird nur dann gelingen, wenn den Unternehmen bezahlbare Technologien für CO2-Abscheidung, -Transport sowie -Speicherung (Carbon Capture and Storage, CCS) und -Nutzung (Carbon Capture and Utilization, CCU) zur Verfügung stehen. Es ist unzweifelhaft, dass das Ziel der Klimaneutralität in Deutschland 2045 und in der EU 2050 in vielen Bereichen nur über die Abscheidung und Speicherung beziehungsweise Nutzung von CO2 erreichbar ist. Es ist daher falsch, dass die deutsche Politik die Speicherung sektoral und regional beschränkt - auf nicht oder schwer zu dekarbonisierende Sektoren wie Zement, Kalk und Stahl und in der Regel nur auf See.
Zwei Drittel der EU-Staaten erlauben die CO2-Speicherung auf ihrem Gebiet. Die EU-Kommission plant bereits Maßnahmen für den grenzübergreifenden Pipeline-Transport und für den Netzzugang. Die deutsche Politik sollte sich diesem Vorgehen anschließen und eine Perspektive für die CO2-Nutzung in Deutschland geben, statt enge Grenzen zu setzen. Außerdem fehlt es bislang an einem Konzept für die Finanzierung eines CO2-Netzes.
10. Deutschland im Energiebinnenmarkt verankern
Eine sichere und effiziente Versorgung mit Energie lässt sich im europäischen Verbund besser bewerkstelligen als im nationalen Alleingang. Dennoch funktioniert ein wettbewerblich geprägter Energiebinnenmarkt, trotz mancher Fortschritte, erst in Ansätzen. Der Energiebinnenmarkt sollte gestärkt werden, indem beim Umbau der Energiesysteme marktnahe Lösungen gemeinsam verfolgt werden und europäische Netze sowie Grenzkuppelstellen (Interkonnektoren) rasch und konsequent ausgebaut werden. Der schleppende grenzüberschreitende Netzausbau aufgrund eines Strebens nach nationaler Energieautarkie, z. B. bei Wasserstoffpipelines, behindert den effizienten und kostengünstigen Ausgleich von Angebot und Nachfrage.
Alle Ergebnisse der bundesweiten Umfrage mit weiteren Details finden Sie hier zum Download.