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An der Wegscheide - Eigenständigkeit oder Südweststaat

Standpunkt
von Volker Giersch

01.09.2010

Alle Jahre wieder flammt sie auf: die Diskussion über eine Neugliederung der Bundesländer. Auslöser sind diesmal der krisenbedingte Anstieg der Haushaltsdefizite und die Sparzwänge, die sich aus der Umsetzung der Schuldenbremse ergeben. Nicht nur in den Notlagenländern, auch in den finanzstarken Ländern ist die Neuverschuldung zuletzt kräftig gestiegen. Auch dort stehen unpopuläre Sparbeschlüsse an. Die Ausgleichszahlungen, die diese Länder im Rahmen des Finanzausgleichs zu leisten haben, werden da schnell zum Stein des Anstoßes. Kein Wunder also, dass aus diesen Ländern in letzter Zeit verstärkt Rufe nach einer Reform des Länderfinanzausgleichs oder gar nach einer Neugliederung der Bundesländer laut werden. In einer föderalen Struktur mit sechs bis acht Ländern, die eine vergleichbare Einwohnerzahl und Finanzkraft aufweisen, wären Mechanismen des Finanzausgleichs und der (Teil-)Entschuldung einzelner Länder ja überflüssig.

Die Argumente der Geberländer sind uns längst vertraut. Neu an der aktuellen Diskussion ist aber, dass sich inzwischen auch in manch einem Nehmerland – auch hier im Saarland – die Stimmen mehren, die eine Länderneugliederung für diskussionswürdig oder gar wünschenswert halten.

Eigenständigkeit bietet vielfältige Vorteile

Für uns hier im Land sollte klar sein, dass die Eigenständigkeit eine Reihe durchaus gewichtiger Vorteile bietet:
  • Ein eigenständiges Land kann sich gezielter im Wettbewerb der Regionen positionieren; es kann in wichtigen Bereichen wie Forschung, Lehre, Bildung, Kultur und Tourismus Kompetenz und Attraktivität in Nischen aufbauen und Alleinstellungsmerkmale stärken.
  • Es kann die regionalen Interessen in Berlin und Brüssel mit mehr Nachdruck und besseren Erfolgsaussichten vertreten.
  • Mit Eigenständigkeit untrennbar verbunden ist der Vorteil kurzer Wege und kürzerer Genehmigungsdauern.
  • Sie bietet bessere Möglichkeiten, die kulturelle und regionale Identität zu fördern – über regionale Medien etwa. So liegt auf der Hand, dass es nur in einem eigenständigen Saarland auch weiterhin eine selbständige Rundfunkanstalt geben wird, die über ihre Hörfunk- und Fernsehangebote Identität stiftend wirkt.
  • Die Eigenständigkeit sichert zahlreiche, überwiegend gut dotierte Arbeitsplätze in Landesministerien, Landesbehörden und im Landesparlament und trägt zugleich dazu bei, Einrichtungen des Bundes in der Region zu halten. Sie wirkt sich insofern positiv auf die Arbeitsmarktbilanz und auf die regionale Kaufkraft aus.
  • Schließlich hat ein eigenständiges Saarland bessere Möglichkeiten, das Zusammenwachsen der Großregion Saar-Lor-Lux voranzutreiben.
Wie schwer diese Vorteile in der Summe wiegen, ist kaum verlässlich abzuschätzen. Klar ist aber: Sie sind umso gewichtiger, je konsequenter wir sie nutzen.

Kleinheit ist grundsätzlich kein Nachteil

Die Empirie lehrt uns überdies, dass kleine staatliche Einheiten größeren keineswegs per se unterlegen sind.
  • Kleine Nationalstaaten (z. B. Schweiz, Malta, Luxemburg, Dänemark, Singapur) schneiden im internationalen Wettbewerb keineswegs schlechter ab als große Staaten.
  • In föderal strukturierten Staaten (USA, Schweiz) lässt sich keinerlei Korrelation zwischen Größe und Erfolg der Gliedstaaten ausmachen. In den USA etwa gibt es sieben Bundesstaaten, die – bezogen auf die Einwohnerzahl - kleiner sind als das Saarland und sich seit vielen Jahrzehnten erfolgreich im föderalen Wettbewerb behaupten – und zwar ohne horizontalen Finanzausgleich.
  • Auch auf der Ebene der Kommunen ist keinerlei Evidenz zu erkennen, dass große Städte und Gemeinden erfolgreicher sind als kleine.
  • Im Bereich der Wirtschaft gelten kleine Unternehmen und mittelständische Strukturen gar als besonders wachstumsstark und innovationsdynamisch.
Vorteile der Kleinheit nutzen!

Wenn kleine Staaten, Gliedstaaten, Kommunen und Unternehmen weltweit erfolgreich sind, dann liegt es nahe, dass auch kleine Bundesländer existenzfähig sind. Meine These heißt: Kleine Bundesländer können ähnlich erfolgreich sein wie kleine Unternehmen. Sie müssen sich dazu freilich deren Tugenden zu Eigen machen, d. h. auf Beweglichkeit, Innovationsdynamik und Schnelligkeit setzen. Sie müssen – auf den Punkt gebracht – die Chancen im Wettbewerb der Regionen früher erkennen und konsequenter nutzen als die Großen. Die Formel „Die Schnellen fressen die Langsamen“ bringt das zum Ausdruck. Sie bildet allerdings nicht das ganze Erfolgsrezept ab. Denn schnelles Handeln alleine reicht nicht. Wichtiger noch ist, dass die politischen Entscheidungen in die richtige Richtung zielen. Die nötige Orientierung hierzu muss eine langfristig angelegte strategische Planung geben.

Kosten der Kleinheit werden überschätzt

Unstrittig ist, dass kleinere Länder auf der Kostenseite, insbesondere bei den Kosten der politischen Führung, im Nachteil sind. Denn es gilt: Je mehr Einwohner, desto größer die Kostendegression bei Regierungs- und Verwaltungstätigkeiten. Doch trifft das dem Grunde nach auch auf Nationalstaaten, Kommunen und Unternehmen zu. Dort zeigt sich, dass sich die Kostennachteile der Kleinheit an anderer Stelle durchaus kompensieren oder gar überkompensieren lassen. Sie wiegen im Übrigen auch nicht schwer. Denn Kostendegression gibt es im Wesentlichen nur auf der Ebene von Parlament, Ministerien und Landesbehörden. Das Saarland beschäftigt hier insgesamt weniger als 1.700 Mitarbeiter. Das sind nur rund sechs Prozent aller Landesbediensteten.

In allen übrigen Bereichen – also Bildung, innere Sicherheit, Hochschulen, Gesundheitswesen, Justiz oder Finanzverwaltung – gibt es dagegen eine weitgehend proportionale Beziehung zwischen dem Personalbedarf im öffentlichen Dienst und der Zahl der Einwohner. Der Bedarf an Lehrern hängt ab von der Zahl der Kinder, der Bedarf an Finanzbeamten von der Zahl der Steuerzahler, der Bedarf an Polizisten von der Zahl der Bürger.

Insgesamt fallen die Mehrkosten der Kleinheit deshalb nur geringfügig ins Gewicht – keineswegs jedenfalls in einem Ausmaß, das in irgendeiner Weise die Existenzfähigkeit des Landes infrage stellen könnte. Würden wir im Saarland – je Einwohner gerechnet – gleich wenig politisches Führungspersonal wie Bayern beschäftigen, dann hätten wir gerade einmal 1.200 Stellen weniger als heute. 1.200 von 26.000 – das sind weniger als fünf Prozent aller Landesbediensteten. Und: Die Mehrkosten, die für die höhere Zahl an Stellen anfallen, gehen nicht einmal zu Lasten des Landeshaushalts. Sie werden über eine Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisung von 63,4 Millionen Euro sehr weit reichend ausgeglichen.

Von Flächenland- zu Stadtstaatstrukturen

Dennoch: Es gibt durchaus Spielräume, die Kosten der politischen Führung weiter zu begrenzen. Dazu muss sich das Land im Inneren effizienter organisieren und nach außen verstärkt auf Kooperationen mit anderen Bundesländern setzen.

Mit dem Sparen beginnen könnte das Land bei der Zahl der Minister und Staatssekretäre. Das würde nicht nur finanziell etwas bringen. Es wäre zudem auch ein positives Signal an die Landesbediensteten der mittleren und unteren Ebenen. Hier müssen schließlich in den kommenden Jahren zahlreiche Stellen gestrichen werden. Wie heißt es doch so schön: Wer bei den Indianern sparen muss, sollte bei den Häuptlingen beginnen.

Zu fragen ist überdies, ob ein kleines Land wie das Saarland auf allen Gebieten das Rad jeweils neu erfinden muss. Kann es in der Gesetzgebung nicht stärker noch als bisher mit anderen Ländern kooperieren? Kann es nicht – da, wo eine politische Alleinstellung wenig Sinn macht - mehr Gesetze und Verordnungen von anderen Ländern übernehmen und seine Ministerien dadurch klein halten? Lassen sich auf der Ebene der nachgeordneten Behörden durch länderübergreifende Lösungen nicht zusätzliche Synergien realisieren?

Ernsthaft zu prüfen ist vor allem auch, ob und wie das Land seine Verwaltungsstrukturen verschlanken kann. Könnte ein kleines Land wie das Saarland nicht auf die Ebene der Landkreise verzichten und seine politische Führung nicht nach dem Muster der Stadtstaaten strukturieren? In Hamburg, das deutlich bevölkerungsstärker ist als das Saarland, gibt es unterhalb der Senatsebene keine Mittelinstanz und nur sieben Stadtbezirke.

Halten wir also fest: Nicht die Kleinheit des Landes ist das Problem. Existenz gefährdend sind vielmehr die extrem hohe Verschuldung (Ende 2010: elf Milliarden Euro) und das riesige Haushaltsdefizit, das in diesem Jahr den Rekordwert von 1,1 Milliarden Euro erreicht. Und Beides hat mit der Kleinheit des Landes ursächlich nichts zu tun. Die Überschuldung resultiert vielmehr größtenteils aus den montanstrukturellen Problemen vergangener Jahrzehnte.

Unstrittig ist, dass es trotz der erneuten Solidarhilfe von 2,34 Milliarden Euro eine riesige Herausforderung ist, den Landeshaushalt wieder ins Lot zu bringen. Unstrittig sein sollte auch, dass sich annähernd gleiche Entwicklungschancen für die Notlagenländer nur herstellen lassen, wenn diese im weiteren Verlauf des Jahrzehnts von ihren überdurchschnittlichen Schulden befreit werden – etwa durch Schaffung eines Altlastenfonds (siehe „Standpunkt“ im August).

Länderneugliederung: große Unwägbarkeiten …

Wer einen Altlastenfonds ablehnt und stattdessen für eine Neugliederung der Länder plädiert, steht zunächst in der Pflicht, konkrete Vorschläge für einen Neuzuschnitt vorzulegen. Manch einem Politiker (zuletzt Edmund Stoiber) schwebt als Ziel vor, die derzeit 16 Länder auf sechs bis acht ähnlich große und wirtschaftsstarke Länder zu verschmelzen.

Doch wie soll das aussehen? Jedes Land müsste dann zehn bis 12 Millionen Einwohner haben. Eine Zusammenlegung unseres Landes mit Rheinland-Pfalz würde dieses Kriterium weit verfehlen. Sie würde zugleich auch das Überschuldungsproblem nicht lösen. Denn auch unser Nachbarland ist weit überdurchschnittlich verschuldet. Es müsste also noch Hessen hinzukommen. Ein solcher Südweststaat hätte dann rund elf Millionen Einwohner, eine Steuerkraft, die in etwa dem Durchschnitt der westdeutschen Flächenländer entspräche und eine Wirtschaftskraft vergleichbar mit der Baden-Württembergs. Doch würden die Saarländer, die Rheinland-Pfälzer und insbesondere auch die Hessen einer solchen Lösung zustimmen, was nach unserem Grundgesetz erforderlich wäre? Das ist mehr als ungewiss.

Und wie könnte die Neugliederung der östlichen und nördlichen Länder aussehen? Ohne die Einbeziehung von Bayern und Baden-Württemberg kann es da beim besten Willen nicht gelingen, eine auch nur annähernde Angleichung bei der Wirtschafts- und Steuerkraft zu erreichen (siehe nebenstehende Karte). Und warum sollten die Bürger dieser beiden wirtschafts- und bevölkerungsstarken Länder einer Neugliederung zustimmen?

… und gewaltiger Umstellungsaufwand

Mit einer Neugliederung der Länder wären zudem auch eine längere Phase der Organisationsunruhe und ein gewaltiger Umstellungsaufwand verbunden. Es geht ja nicht nur darum, die Parlamente, Ministerien und Behörden mehrerer Länder zusammen zu führen, sondern vor allem auch darum, einheitliche Rechtsnormen zu schaffen und die Strukturen von Schulen, Polizei, Justiz und Finanzverwaltung in ein gemeinsames System zu überführen. Machen wir uns nichts vor: All das würde viel Zeit und Geld kosten. Wer daran zweifelt, möge sich einmal die Kosten der deutschen Einheit und den damit verbundenen Regelungsaufwand näher ansehen.

Negativ zu Buche schlagen würde wohl auch, dass jene Länder, die in größere Gliedstaaten eingegliedert werden sollen, im Vorfeld kaum zu besonderer Ausgabendisziplin neigen würden. Sämtliche Kosten für zusätzliche Investitionen – Zinsen, Tilgung und auch Folgekosten – hätten ja später andere zu tragen, während die Nutzen jeweils im Land blieben. Wir Saarländer kennen solches Verhalten noch aus den 70er Jahren, als im Zuge der Gebiets- und Verwaltungsreform 365 kleine Gemeinden zu 50 größeren Gemeinden verschmolzen wurden. Die zahlreichen Schwimmbäder, Mehrzweckhallen und Feuerwehrhäuser jener Zeit und deren Folgekosten zehren noch heute an den Finanzen der Kommunen.

All das mündet in der Frage: Wie lange würde es dauern, bis die möglichen (noch keineswegs gesicherten) Effizienzgewinne einer Länderneugliederung den mit ihr verbundenen riesigen Mehraufwand aufwiegen würden? Die Einrichtung eines Altlastenfonds wäre da wohl die weitaus kostengünstigere und schneller realisierbare Lösung – eine Lösung zudem, die dem föderalen Wettbewerb zwischen kleinen und großen Ländern zu Gute käme statt ihn auf den Wettbewerb zwischen gleich großen Ländern zu begrenzen.

Für ein Zukunftskonzept 2020

Aus saarländischer Sicht – so das Fazit – bleibt der Erhalt der Eigenständigkeit die erstbeste Lösung – dann jedenfalls, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt sind: Erstens muss über die Schaffung eines Altlastenfonds oder über eine nochmalige Teilentschuldung sichergestellt sein, dass das Land weiterhin faire Entwicklungschancen im Länderwettbewerb hat. Zweitens muss die Politik auf Landesebene stimmen.

Letzteres heißt zunächst: Das Land muss die Auflagen der Konsolidierungshilfe in den kommenden Jahren stringent einhalten und damit den Weg frei machen für jährliche Finanzhilfen in Höhe von 260 Millionen Euro. Zudem muss das Sparmuster stimmen. Konkret: Zu sparen ist zu allererst dort, wo das Land mehr ausgibt als die übrigen Länder – das heißt insbesondere bei Personal und Sozialstandards. Nur so lässt sich ein ausreichender finanzieller Spielraum für jene Bereiche sichern, die über die Wettbewerbsfähigkeit des Landes letztlich ausschlaggebend sind – für Standort prägende Zukunftsinvestitionen, für Wirtschaftsförderung, Kultur und Forschung also.

Strategisch steht die Landesregierung jetzt an einer Wegscheide. Entweder sie entwickelt rasch ein in sich schlüssiges strategisches Gesamtkonzept für die kommenden Jahre und richtet ihre Politik konsequent daran aus. Oder es droht über kurz oder lang die Eingliederung in einen Südweststaat.

Ein Zukunftskonzept, das auf den Erhalt der Eigenständigkeit zielt, braucht als Grundlage zunächst eine valide Abschätzung der haushaltspolitischen Eckdaten und eine schonungslose Analyse der Ausgabenseite des Haushaltes – insbesondere auch das Benchmarking mit den übrigen Ländern. Diese Grundlagen muss die von der Landesregierung eingesetzte Haushaltsstrukturkommission erarbeiten.

Folgen muss dann die Phase der politischen Prioritätensetzung. Hier geht es insbesondere um die Frage, wie die Finanzmittel, die nach Einhaltung der Konsolidierungsauflagen bleiben, auf die einzelnen Aus- und Aufgabenbereiche zu verteilen sind. Anders gewendet: Es ist zu entscheiden, wo unterproportional gekürzt werden soll, wo überproportional und wo gar nicht.

Als Orientierung für ein entsprechendes Sparkonzept sollte ein „Zukunftsbild Saarland 2020“ dienen – eine Vision, die aufzeigt, wie das Saarland, gegebenenfalls gestützt auf weitere Solidarhilfe, bis Ende des Jahrzehnts und darüber hinaus erfolgreich im Wettbewerb der Regionen bestehen kann.

Keine Frage: Das ist eine komplexe und sehr anspruchsvolle Aufgabe. Doch ohne ein schlüssiges Gesamtkonzept wird unser Land kaum eine Chance haben, eigenständig die Zukunft zu gewinnen. Wir sollten deshalb umgehend damit beginnen, ein solches Zukunftskonzept zu entwerfen. Um es mit Churchill zu sagen: „Let our advance worrying become advance thinking and planning“.

Sobald ein schlüssiges Gesamtkonzept vorliegt, erübrigen sich dann auch jährlich wiederkehrende, durch Partikularinteressen geleitete Spardiskussionen. Stattdessen kann endlich die längst überfällige Diskussion über die Zukunft unseres Landes beginnen. Und ich bin sicher: Wenn es gelingt, ein positives Zukunftsbild von unserem Land zu zeichnen, werden die Menschen letztlich auch bereit sein, die Opfer zu akzeptieren, die auf dem Weg dorthin unausweichlich zu erbringen sind.