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Den Teufelskreis durchbrechen

Von Volker Giersch
Kommentar

01.12.2002

Deutschland ist in einen Teufelskreis geraten. Weil es die Politik bislang versäumt hat, die Marktkräfte zu stärken, die soziale Sicherung zukunftsfest zu machen und den Arbeitsmarkt zu deregulieren, ist unser Land stärker als andere in den Sog der weltweiten Konjunkturflaute geraten: Das Wachstum tendiert gegen Null, die Arbeitslosigkeit steigt wieder an. Die Steuereinnahmen brechen weg. Der sozialen Sicherung droht der Kollaps.

All dies kam scheinbar völlig überraschend über die Republik – kurz nach der Bundestagswahl. Die Bundesregierung hat unserem Land daraufhin eine hektisch zusammengestrickte Nottherapie verordnet: eine Schröpfkur für Bürger und Unternehmen. Bestehende Steuern werden erhöht, neue eingeführt. Die Beitragssätze in der Kranken- und Rentenversicherung steigen, die Beitragsbemessungs- und Versicherungspflichtgrenzen ebenso.

Anders als in der Medizin ist diese Schröpfkur alles andre als heilsam. Sie ist Gift für die Konjunktur. Sie schmälert die Kaufkraft, verteuert die Arbeit und bringt zusätzliche Regulierung (Stichwort Kontrollmitteilungen). Folge: Die Konsumlust wird weiter sinken, die Investitionsneigung auch. Weitere Arbeitsplätze gehen verloren. Die Spirale dreht sich weiter abwärts. Die Defizite bei Staat und sozialer Sicherung wachsen erneut. Schon bald droht der Schröpfkur zweiter Teil.

In der Giftküche brodelt es bereits. Über eine Erhöhung der Erbschaftssteuer und die Wiedereinführung der Vermögensteuer sollen die „Reichen“ stärker zur Kasse gebeten werden. Die Gewerkschaften sollen im Verbund mit den SPD-Ministerpräsidenten dafür werben. Beamte und Selbständige sollen, so die zuständige Ministerin, in die gesetzliche Rentenversicherung einbezogen werden. Der linke Flügel der SPD denkt zudem laut über Korrekturen der Steuerreformstufen 2004 und 2005 nach – natürlich zu Lasten der „Besserverdiener“ und des Mittelstandes. Trotz aller Dementis ist wohl auch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer nicht ausgeschlossen.

Statt hektischer Flickschusterei ...

Bei so viel hektischer Flickschusterei kann es nicht verwundern, dass Bürger und Unternehmen tief verunsichert sind. Was die Bundesregierung in kürzester Zeit an Vertrauenskapital verspielt hat, ist in der Tat rekordverdächtig. Dies auch zum Schaden der Konjunktur. Denn ohne ein Mindestmaß an Vertrauen in die Politik werden weder die Investitionen noch der private Konsum anspringen. Gleich Mehreres gibt Anlass zur Sorge:

Erstens: Das Notpaket trägt in weiten Teilen die Handschrift der Gewerkschaften. Offenbar hat sich die mit knapper Mehrheit gewählte rot-grüne Koalition inzwischen zu einer Dreier-Koalition gemausert, in der die Arbeitnehmerorganisationen einflussreich mit am Tisch sitzen. Das verheißt auch für die Zukunft wenig Gutes.

Zweitens: Der Bundesregierung fehlen offenbar Kraft und Wille, am Kurs der Haushaltskonsolidierung festzuhalten. Insbesondere mangelt es an der Bereitschaft, substantielle Einsparungen bei den konsumtiven Ausgaben vorzunehmen. Wir leben damit weiter über unsere Verhältnisse. Dies zu Lasten unserer Kinder und Enkel.

Drittens: Es fehlt eine klare wirtschaftspolitische Perspektive. Saar-SPD-Chef Heiko Maas kritisiert mit Recht: „Das Stopfen von Löchern in den Kassen ist nichts anderes als Flickschusterei: Es fehlen klare Gesamtkonzepte.“ Wir wissen nur eines: Alles ist möglich.

Viertens: beunruhigt auch die kreative Semantik. Steuererhöhungen heißen jetzt euphemistisch Steuervergünstigungsabbau. Und das will uns sagen, dass hier Missstände beseitigt werden, die schon lange ein Ärgernis sind. Im Umkehrschluss bedeutet dies: Wenn alles zur Disposition steht, was sich in die Rubrik „Steuervergünstigungen“ einordnen lässt, dann ist der Spielraum für weitere Steuererhöhungen immens.

... endlich ein schlüssiges Reformprogramm

Zugegeben: Nach den Fehlern und Versäumnissen der Vergangenheit hat der Staat zurzeit kaum Spielraum, die Konjunktur durch eine expansive Finanz- und Steuerpolitik zu stimulieren, so wie es etwa in den USA geschieht. Umso wichtiger ist es, endlich jene Reformen energisch anzupacken, die mehr Dynamik versprechen, ohne Geld zu kosten. Das Terrain für solche Reformen ist riesig. Die Zielrichtung ist klar. Sie lautet: Für eine Renaissance der Marktwirtschaft.

Der Sachverständigenrat hat im Rahmen seines jüngsten Gutachtens eine entsprechende Reformagenda mit 20 Vorschlägen vorgelegt. Die wichtigsten Stichworte lauten:

  • Reduzierung der gesetzlichen Lohnnebenkosten durch kostendämpfende Strukturreformen in der sozialen Sicherung
  • Beschäftigungswirksame Lohnpolitik, d. h. Anstieg der Löhne unterhalb des Zuwachses der Arbeitsproduktivität
  • Mehr Spielraum für Bündnisse für Arbeit auf betrieblicher Ebene
  • Lockerung des Kündigungsschutzes, mit dem Ziel, Arbeitslosen den Einstieg in die Beschäftigung zu erleichtern
  • Rückführung von Staatsaufgaben zugunsten privater Aktivitäten; dafür gibt es auf allen Ebenen des Staates noch reichlich Spielraum
  • Weitere Senkung der Steuersätze bei gleichzeitiger Verbreiterung der Bemessungsgrundlagen
  • Strukturreform der Sozialhilfe, d. h. niedrigere Regelsätze für arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger, die im Gegenzug einen größeren Teil der Einkommen behalten dürfen, wenn sie hinzuverdienen.
Eine solche Therapie ist weder neu noch originell. Doch sie ist finanzierbar und erfolgversprechend. Fast der gesamte ökonomische Sachverstand verordnet sie dem kranken Mann Europas schon lange. Die einzelnen Elemente müssten nur noch in einen ganzheitlichen Therapieplan eingebettet werden. Allein schon die verbindliche Ankündigung eines solchen Planes hätte heilende Wirkung. Bereits kurz nach Beginn der Therapie würde der Patient an Vitalität, Dynamik und Widerstandsfähigkeit gewinnen. Eine nachhaltige Gesundung wäre programmiert. Für eine solche Therapie ist es noch nicht zu spät. Doch die Zeit drängt, wenn die nächste Notoperation vermieden werden soll.