Der saarländische Patient *
Volker Giersch über die Ursachen der längeren
Krankheitsdauern im Saarland
Kommentar
01.08.2004
Längere Krankheitsdauer
Gemäß AOK-Statistik liegt der Krankenstand im Saarland seit Jahren bereits deutlich über dem deutschen Durchschnitt (Saar: 6,1 Prozent; Bund: 4,9 Prozent). Der Saarländer ist zwar nicht häufiger krank ist. Aber er braucht im Krankheitsfall deutlich länger, um wieder zu gesunden.
Oft wird behauptet, das liege an der Branchenstruktur unserer Wirtschaft. Doch dafür gibt es keinerlei Evidenz. Denn wir treffen das Phänomen der längeren Genesungsdauer nicht nur in einzelnen, sondern in praktisch allen Branchen an: im Dienstleistungsbereich und in der öffentlichen Verwaltung ebenso wie in der Metall- und Elektroindustrie. Der saarländische Patient ist jeweils rund 20 Prozent länger krank als sein bundesdeutscher Kollege.
Die Arbeitnehmerorganisationen sehen die Schuld dafür bei den Unternehmen. Der Arbeits- und Gesundheitsschutz werde hierzulande weniger ernst genommen als anderswo in Deutschland. Doch das scheint wenig plausibel. Denn an der Saar stellen Zweigwerke den Großteil der Industriearbeitsplätze, und innerhalb der Konzerne gelten bekanntlich die gleichen Standards. Überdies vermag der Faktor Arbeitsschutz nur schwerlich zu erklären, dass der Saarländer auch und gerade im Dienstleistungssektor und in den Amtsstuben des Staates weit überdurchschnittlich lange krank ist.
Falsche Ernährung, genetische Defekte oder Angst vor Arbeitslosigkeit?
Bleibt also die Vermutung, dass die Gründe beim saarländischen Patienten selbst zu suchen sind. Es liegt am Ernährungsverhalten, meinen die einen. („Der Mensch denkt, Gott lenkt, der Saarländer schwenkt“). Der Saarländer esse so gut wie die Franzosen und so reichlich wie die Deutschen. Auch sei er Kalorienbomben traditionell sehr zugetan. Das schade der Gesundheit. Mag sein. Doch auffallend übergewichtig ist er nicht. Im Gegenteil: Die Nachbarn aus Rheinland-Pfalz, die Bayern oder auch die Hessen übertreffen ihn deutlich an Leibesfülle und sind dennoch kürzer krank.
Ein anderer Erklärungsversuch nimmt Bezug auf die hierzulande besonders ausgeprägte Sekundärtugend Fleiß. Der Saarländer tendiere dazu, Krankheiten besonders gründlich auszukurieren, weil er stets danach strebe, überdurchschnittlich produktiv zu arbeiten. Und dazu brauche er eben die volle Fitness.
Die Ärztekammer machte vor einiger Zeit die Lage auf dem Arbeitsmarkt als Ursache aus: In einem Land mit so vielen Arbeitslosen komme es zwangsläufig zu einer höheren Krankheitsdauer. Doch halt! Die Arbeitslosigkeit liegt an der Saar doch seit Jahren schon unter dem nationalen Durchschnitt.
Auch genetische Gründe hält man in der Ärzteschaft für möglich. Das Saarland sei „ein Landstrich mit eher unterdurchschnittlicher Bevölkerungsfluktuation“. Da habe es, ebenso wie bei den (Inzest-)Populationen in abgelegenen Alpentälern, an der nötigen genetischen Auffrischung von außen gemangelt. Eine schwächere Immunkraft könne die Folge sein.
Fast schon perfide ist die Unterstellung, der Saarländer nutze einen Teil der Krankheitstage, um seine Urlaubstage zu ergänzen. Er genehmige sich sozusagen Urlaubsergänzungstage. Die Urlaubsdauer allein reiche einfach nicht aus, neben dem eigenen Erholungsbedürfnis auch den vielfältigen Verpflichtungen zur Nachbarschaftshilfe nachkommen zu können.
Über die Tauglichkeit dieser Hypothesen mag sich der Leser selbst ein Urteil bilden. Der Autor dieser Kolumne begnügt sich damit, einen weiteren Erklärungsansatz hinzuzufügen, der eher ökonomischer Natur ist. Er fußt auf der Tatsache, dass „das Gesundheitswesen im Saarland besonders im Krankenhausbereich durch Überkapazitäten geprägt ist“. Sowohl bei der Zahl der Ärzte als auch bei dem Bestand an Krankenhausbetten liegt unser Land in der Spitzengruppe der Länder. Die sogenannte Bettendichte überschreitet den Bundesdurchschnitt nach wie vor um gut zehn Prozent.
Gesundheitswesen braucht Schlankheitskur
„Jedes Angebot schafft sich seine Nachfrage“, schrieb der französische Ökonom Jean Baptiste Say vor rund 200 Jahren. Jedes Krankenbett findet seinen Patienten, behaupten Ökonomen heute. Eine abwegige These? Keineswegs! Denn unser Gesundheitssystem mit (Vollkasko-)Versicherung bietet geradezu ideale Voraussetzungen dafür, dass sich überhöhte Kapazitäten die erforderliche Auslastung sichern. Entsprechend hoch sind hierzulande die Kosten des Gesundheitswesens – insbesondere für stationäre Behandlungen. Sie liegen im Saarland um rund 40 Prozent über dem Bundesdurchschnitt.
Der saarländische Patient ist unseren Krankenhäusern also lieb und den Kassen teuer. Die Zeche zahlen zum guten Teil die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer über höhere Lohnnebenkosten. Zusammen mit den Kosten, die aus den längeren Fehlzeiten in den Betrieben resultieren, erwächst hieraus eine beträchtliche Hypothek für den Wirtschaftsstandort Saar.
Was zu tun ist, liegt auf der Hand: Wir müssen dem übergewichtigen saarländischen Gesundheitswesen rasch eine durchgreifende Schlankheitskur verordnen. Davon würde letztlich auch der saarländische Patient profitieren. In nicht allzu ferner Zeit würde er dann wohl ähnlich rasch gesunden wie seine Mitbürger anderswo in Deutschland.
* fortgeschriebene Fassung des Kommentars in der Wirtschaft Nr. 11/2000