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Die Ausbildungsreife verbessern!

Standpunkt
von Volker Giersch

01.11.2010

Das Jahr 2010 markiert einen Wendepunkt auf dem Ausbildungsmarkt: Nach einer langen Zeitspanne, in der es vorrangiges Ziel war, ein ausreichendes Angebot an Ausbildungsplätzen für junge Menschen bereitzustellen, beginnt jetzt eine Phase, in der Bewerber zunehmend knapp werden. Denn die Zahl der Schulabgänger wird kräftig sinken. Allein bis Ende des Jahrzehnts ist mit einem Minus von fast 25 Prozent zu rechnen. Und schon jetzt können viele Ausbildungsplätze nicht besetzt werden. Gleichzeitig werden ältere Menschen in großer Zahl aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Zusammengenommen bedeutet das: Der aktuell schon spürbare Mangel an Fachkräften wird weiter zunehmen und in bestimmten Branchen dramatische Ausmaße annehmen.

Dieser Herausforderung müssen wir uns offensiv stellen – auch und gerade deshalb, weil der demografische Wandel hier im Land stärker ausfällt als in den übrigen westdeutschen Bundesländern. Je rascher und beherzter wir reagieren, desto besser lassen sich die negativen Auswirkungen lenken. Eine breite Palette von Maßnahmen ist nötig: eine bessere Berufsorientierung der Jugendlichen etwa, attraktive Studiengänge an unseren Hochschulen, eine noch bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die längere Beschäftigung älterer Arbeitnehmer und auch ein überzeugendes Standortmarketing, das es erleichtert, Fach- und Führungskräfte von außen zu gewinnen.

 

Ganz oben auf der Agenda müssen aber qualitätsverbessernde Investitionen in unsere Kindergärten und Schulen stehen. Wir werden es uns künftig nicht mehr leisten können,
  • dass rund 6,5 Prozent eines Altersjahrgangs unsere Schulen ohne Abschluss verlassen und
  • dass jeder fünfte Schulabgänger nicht oder nur eingeschränkt ausbildungsfähig ist. 20 Prozent der 15-Jährigen können laut PISA-Studie nur auf Grundschulniveau lesen, schreiben und rechnen. Diese Jugendlichen sind zumeist nicht in der Lage, eine berufliche Ausbildung erfolgreich zu absolvieren.
Im Klartext bedeuten diese Zahlen: Wir lassen einen erheblichen Teil des Potenzials, das in den Köpfen unserer jungen Menschen schlummert, brachliegen. Das ist nicht nur verantwortungslos gegenüber unserer Jugend. Wir verschenken zugleich auch wichtige Chancen für Wachstum und Beschäftigung. Denn eine spürbare Verbesserung der Ausbildungsreife hätte quantitativ eine durchaus beachtliche Wirkung: Würden wir es bis Ende des Jahrzehnts schaffen, dass dann 95 Prozent aller Jugendlichen die Schulen ausbildungsreif verlassen (statt bislang 80 Prozent), dann hätten wir den zahlenmäßigen Rückgang bereits gut zur Hälfte wettgemacht. Die Zahl der ausbildungsfähigen Bewerber würde dann bis 2020 nur noch um ein Zehntel sinken. Das wäre zwar immer noch ein starker Rückgang, aber einer, der Chancen auf Wachstum aufrechterhält.

Qualitätsoffensive konsequent fortsetzen

All das macht deutlich, wie dringlich es ist, die Qualitätsoffensive an unseren Schulen konsequent fortzusetzen. Keine Frage: In den vergangenen Jahren hat sich bereits vieles verbessert. So ist etwa der Anteil der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss von elf Prozent in 1999 auf derzeit 6,5 Prozent zurückgegangen. Doch weitere Fortschritte sind dringend nötig. Vordringlich ist aus IHK-Sicht insbesondere

ein früherer Lernbeginn schon in den Kindergärten – auch mit dem Ziel, Bildungsunterschiede möglichst frühzeitig auszugleichen. Spielerisch lernen heißt das Stichwort. Wir begrüßen deshalb die von der Landesregierung geplante Weiterentwicklung des dritten Kindergartenjahres zu einem Schulvorbereitungsjahr, das aus unserer Sicht obligatorisch sein sollte.
Der Ausbau von Ganztagskindergärten und Ganztagsschulen. Eine zusätzliche pädagogische Betreuung über den Schulvormittag hinaus würde neue Chancen bieten, lernschwächere Kinder zu fördern und besonders Begabte stärker zu fordern. Überdies würden sich zusätzliche Spielräume eröffnen, den sozialen Erfahrungsbereich zu erweitern, die Kinder für Kultur, Wirtschaft und Technik zu interessieren und bessere Fremdsprachenkenntnisse zu vermitteln. In diesem Sinne darf es am Nachmittag nicht nur um Betreuung gehen. Im Mittelpunkt muss vor allem auch die Bildung stehen. Dazu brauchen wir möglichst rasch ein flächendeckendes Angebot echter Ganztagsschulen mit verbindlichem und strukturiertem Unterricht auch am Nachmittag. Die Landesregierung ist hier auf einem guten Weg. Das Eckpunktepapier zum Ausbau der gebundenen Ganztagsschulen weist in die richtige Richtung. Jetzt kommt es auf die Taten an.
Mehr Eigenverantwortung und mehr Gestaltungsfreiraum für die Schulen und mehr Wettbewerb zwischen ihnen. Einen entscheidenden Hebel für die weitere Qualitätsverbesserung des Schulsystems sehen wir in der Entwicklung hin zur selbständigen Schule. Mehr Selbständigkeit bringt viel und kostet wenig. Der vom Land im Schuljahr 2007/2008 begonnene Modellversuch war ein richtiger erster Schritt hin zu größerer Selbständigkeit von Schulen. Jetzt gilt es, jene Freiheitsgrade, die sich im Modellversuch als qualitätssteigernd erwiesen haben, möglichst rasch auch den anderen Schulen zuzugestehen.

Durch die Berichterstattung in den Medien hat ein weiterer Vorschlag einen unangemessen hohen Stellenwert erhalten und eine kontroverse Diskussion ausgelöst: der Vorschlag, das Einschulungsalter schrittweise herabzusetzen. Konkret hat unsere IHK – unterstützt durch Handwerkskammer und VSU –angeregt, innerhalb der nächsten Jahre den Regelstichtag für die Einschulung um jeweils einen Monat nach hinten zu verschieben. In anderen Ländern – etwa in unserem Nachbarland Frankreich – ist ein deutlich früheres Einschulungsalter, in Verbindung mit einer vorgeschalteten Vorschule, längst erfolgreich geübte Praxis.

Auch im Reigen der Bundesländer fällt unser Land mehr und mehr zurück. So haben in den letzten Jahren acht Länder – Thüringen, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Brandenburg, Niedersachsen, Bayern, Berlin und Nordrhein-Westfalen – den einst bundesweit gültigen Stichtag zur Einschulung – teils sukzessive, teils auf einen Schlag – um mehrere Monate nach hinten verschoben. Früher galt in allen Ländern, dass Kinder, die vor dem 30. Juni eines Jahres sechs Jahre alt werden, mit Beginn des neuen Schuljahres schulpflichtig sind. Heute zählen in den genannten Ländern der 1. August, der 30. September oder wie in Berlin und bald auch in Bayern und Nordrhein-Westfalen der 31. Dezember als Stichtag. Das bedeutet: In den letztgenannten Ländern liegt das durchschnittliche Einschulungsalter um rund sechs Monate unter dem Niveau im Saarland. Wir teilen hier die Auffassung von Bundesbildungsministerin Annette Schavan, dass viele Kinder in den Ländern, die beim 30. Juni geblieben sind, für ihre Verhältnisse zu spät in die Schulen kommen.

Keine Frage: Wann ein Kind schulreif ist, ist von Kind zu Kind verschieden. Deshalb brauchen wir neben einem definierten Stichtag weiterhin flexible Regelungen. Eine Rückstellung der Einschulung muss ebenso möglich bleiben wie eine frühere Einschulung auf Antrag („Kann-Kinder“). Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang, dass die Entwicklung des dritten Kindergartenjahres zu einem Schulvorbereitungsjahr die Schulreife der Kinder Zug um Zug verbessern wird.

Es bleibt deshalb – nicht nur, aber auch mit Blick auf die demografische Herausforderung – bei unserem Appell an die Landesregierung, den Stichtag für die Einschulung jährlich um jeweils einen Monat nach hinten zu schieben. Man mag dann – vor dem Hintergrund der gewonnenen Erfahrungen – von Jahr zu Jahr entscheiden, wie lange man diesen Prozess laufen lässt. Entscheidend ist, dass wir damit bald beginnen.

Demografie schafft finanziellen Spielraum

Für die Umsetzung der Qualitätsoffensive bleibt schließlich noch die Frage der Finanzierung. Wie lässt sich die Qualitätsoffensive mit den Auflagen der Schuldenbremse vereinbaren? Wie soll das Land die zusätzlichen Lehrer und pädagogisch geschulten Fachkräfte bezahlen, ohne den Bildungshaushalt aufzustocken?

Das passende Stichwort dazu heißt „demografische Dividende“. Es beschreibt das Einsparpotenzial, das sich durch die stark rückläufige Schülerzahl eröffnet. Wenn die Zahl der Schüler bis 2020 um etwa ein Viertel zurückgeht, dann steht uns je Schüler bei gleich großem Bildungsetat rein rechnerisch ein Viertel mehr an Finanzmitteln zur Verfügung. Die Position unserer IHK lautet: Diese demografische Rendite muss zum größeren Teil im Bildungssystem bleiben. 15 der verfügbaren 25 Prozentpunkte für die Qualitätsverbesserung zu nutzen und zehn für die finanzielle Konsolidierung, wäre ein denkbarer Weg.

Zusätzlicher Finanzierungsspielraum ließe sich gewinnen, wenn die Landesregierung zwei kostspielige sozialpolitisch motivierte Maßnahmen wieder rückgängig machen würde: die Abschaffung der Studiengebühren und die Einführung der Beitragsfreiheit für die Nachmittagsbetreuung an Schulen. Wenn das Land die dann frei werdenden Mittel – insgesamt mehr als 30 Millionen Euro jährlich – in die Qualität der Kindergärten und Schulen investieren würde, könnte es eine deutlich höhere bildungspolitische Rendite erzielen als heute. Denn wir wissen ja: Je früher wir in die Bildung unserer Kinder investieren, desto größer der Erfolg. Profitieren würden gerade auch jene Kinder, die uns derzeit die größten Sorgen machen: Kinder mit Migrationshintergrund und Kinder aus schwierigen sozialen Milieus.