Falsche Signale
Statt mutiger Reformen alte Rezepte
IHK Präsident Dr. Richard Weber zu den Beschlüssen der
Koalition
29.10.2002
Mangelnde Verlässlichkeit
Es wurden Dinge beschlossen, die vorher nie angekündigt wurden. Und das, was angekündigt war, wird (so) nicht umgesetzt oder verschoben. Wieder einmal sollen viele steuerliche Regeln verändert werden – teilweise sogar rückwirkend.
Beispiel eins: Ohne Vorankündigung sollen künftig Wertzuwächse aus Aktienvermögen voll besteuert werden. Die Spekulationsfrist wird aufgehoben – bei Verlusten soll nicht einmal eine Verrechnung mit anderen Einkunftsarten möglich sein. Sollten die Beschlüsse so umgesetzt werden, wird die Altersvorsorge auf der Basis von Aktienvermögen im Extremfall kaum mehr als die Hälfte wert sein. Ein „grandioser“ Beitrag für mehr private Altersvorsorge! Beispiel zwei: Da „entdeckt“ die neue/alte Bundesregierung Haushaltslöcher in zweistelliger Milliardenhöhe. Wer könnte ihr glauben, dass diese Lücke nicht längst vor der Wahl bekannt war?
Mangelnde Solidität
Zu den wenigen Aktivposten in der Bilanz der ersten rot-grünen Bundesregierung gehörte deren solide Finanzpolitik und das Bemühen um Konsolidierung. Dieses Ziel scheint die neue Regierung schon gleich zu Beginn ihrer Amtszeit aufgegeben zu haben. Das zeigt nicht nur der Verzicht auf ernsthafte Sparbemühungen und die hohe Neuverschuldung. Noch schwerer wiegt, dass plötzlich gerade die Bundesrepublik – einst Vorkämpfer einer stabilen Währung – nun plötzlich an vorderer Front für ein Aufweichen des europäischen Stabilitätspaktes wirbt. Als Musterbeispiel unsolider Finanzpolitik darf dabei getrost das weitere Abschmelzen der Schwankungsreserve in der Rentenversicherung betrachtet werden. Alle Experten, selbst die Arbeitnehmervertreter, haben von dieser Verzweiflungstat abgeraten. Der DGB befürchtet, dass die Rentenkassen spätestens im Sommer nächsten Jahres Kredite für die Rentenzahlungen aufnehmen müssen. Fazit: Die Renten sind nicht einmal mehr kurzfristig sicher.
Mehr Staat, weniger Markt
Mit aller Konsequenz wird Eigenverantwortung zugunsten staatlicher Interventionen zurückgedrängt, private Investitionen werden durch staatliche ersetzt. Statt die Altersvorsorge – wie von vielen Experten empfohlen – mehr und mehr auf eine Grundsicherung zurückzuführen, werden über die Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze zusätzliche Rentenansprüche geschaffen – nur zugunsten kurzfristiger Entlastungswirkungen. Oder denkt Rot-Grün gar nicht daran, diese jemals einlösen zu wollen? Ein weiteres Beispiel ist die Familienpolitik: Da werden vier Milliarden Euro in den Ausbau von Ganztagsschulen und noch einmal anderthalb Millionen für zusätzliche Krippenplätze zur Verfügung gestellt. Warum lässt man das Geld nicht gleich den Familien und setzt sie damit in die Lage, Betreuungsangebote zu kostendeckenden Preisen „einzukaufen“? Stattdessen zahlen sie die Zeche nun über höhere Mehrwertsteuersätze. Schon im vergangenen Jahr „durften“ die Steuerzahler in Deutschland 200 Tage nur für den Staat arbeiten, jetzt werden noch einmal einige Tage dazu kommen.
Völlig ungenutzt blieb – selbst angesichts der objektiv gegebenen Sparzwänge – die Chance, die staatlichen Ausgaben zu begrenzen. Statt auf diese Weise Spielräume zu schaffen, die Unternehmen zu entlasten und ihnen damit die Möglichkeit zu produktiven Investitionen zu geben, erhöht man die Belastungen für die Wirtschaft. Damit setzt die neue Bundesregierung auf das alte Rezept, mit staatlichen „Investitionen“ die Wirtschaft anzukurbeln. Die Erfahrung zeigt, dass diese Rechnung nicht aufgeht: Private Investitionen schaffen dauerhafte Arbeitsplätze, öffentliche Ausgaben höchstens kurzfristige Beschäftigung.
Kurieren am Symptom statt grundlegende Reformen
Nirgends wird die Reformunfähigkeit so deutlich, wie in den Beschlüssen zur „Reform“ der Sozialversicherungssysteme. Hier geht es offenbar nur noch darum, kurzfristige Finanzlöcher zu stopfen. Das Ziel, diese Grundpfeiler unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystem den veränderten Bedingungen einer alternden Gesellschaft anzupassen und damit zukunftssicher zu machen, wurde offenbar vollständig aufgegeben. Beispiel Krankenversicherung: Kostenerstattungs- statt Sachleistungsprinzip? Fehlanzeige! Höhere Selbstbeteiligung? Mehr Transparenz? Mehr Wettbewerb? Keines der Grundprobleme wird auch nur angetastet. Das Gleiche gilt für die Renten- und Arbeitslosenversicherung.
Selbst die Chance für einen durchgreifenden und flächendeckenden Subventionsabbau wurde verspielt. Das Angebot der Industrie- und Handelskammern und ihrer Dachorganisation (DIHK) daran konstruktiv mitzuwirken, haben die Koalitionäre ausgeschlagen. Stattdessen hat Rot-Grün sich darauf verständigt, Steuern und Abgaben sowie die Verschuldung zu erhöhen. Damit wurde einmal mehr der Weg des geringsten Widerstands eingeschlagen.
Der Koalitionsvertrag trägt die ambitiöse Überschrift „ Erneuerung – Gerechtigkeit – Nachhaltigkeit“. Keines dieser Versprechen wird eingelöst – nicht einmal die offenbar zentrale Verheißung von mehr Gerechtigkeit. Wer glaubt schon noch an die alte Formel aus der sozialistischen Mottenkiste „Mehr Staat + mehr Umverteilung = mehr Gerechtigkeit?“ Die neue/alte Bundesregierung hat im Wahlkampf dafür geworben, ihr eine zweite Chance zu geben. Hätte sie die jetzigen Beschlüsse der Koalitionsvereinbarung zur Grundlage ihres Wahlkampfes gemacht, dann hätten ihr die Wähler diese Chance gewiss nicht mehr gegeben.
Die Enttäuschung lässt jetzt schon viele Unternehmen wieder ernsthaft über Standortverlagerungen nachdenken. Unternehmerische Solidarität könnte aber ganz anders aussehen: Zu Zeiten als die Grünen noch die Oppositionsbänke drückten, riefen sie gerne zu „ zivilem Ungehorsam“ auf. Sicher wird mancher Unternehmer – vor dem Gang zum Konkursrichter oder der Abwanderung – an solche Mittel denken. Statt sich in „außerparlamentarischer“ Opposition zu üben, könnten sich die Unternehmer aber auch in der Politik selbst stärker engagieren. Und nicht zuletzt könnte eine größere Geschlossenheit der Wirtschaftsorganisationen den Unternehmensinteressen größere Schlagkraft verleihen. Im Saarland funktioniert das jedenfalls schon vorbildlich.“