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Gute soziale Absicht, böse soziale Folge - Gesetzliche Mindestlöhne vernichten zahlreiche Arbeitsplätze

Standpunkt
von Volker Giersch

01.04.2012

Was falsch ist, wird auch durch stetes Wiederholen nicht richtig. Es kann aber dennoch Gesetz werden. Das erleben wir gerade beim Thema Mindestlohn: Nach jahrelangen Kampagnen der Arbeitnehmerorganisationen und der im linken Spektrum angesiedelten Parteien ist es wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis ganz Deutschland von einem Mindestlohn überzogen wird. Nachdem zuletzt selbst die CDU auf ihrem Leipziger Parteitag für allgemein verbindliche Lohnuntergrenzen votiert hat, geht es nicht mehr um das „Ob“, sondern nur noch um das „Wie“ – sprich um die Ausgestaltung. Zwei Lösungsansätze stehen sich konkurrierend gegenüber:

SPD, Grüne, Linkspartei und Gewerkschaften fordern einen gesetzlich verankerten Mindestlohn: SPD und Gewerkschaften wollen ihn auf 8,50 Euro je Stunde festlegen; die Höhe soll regelmäßig durch eine unabhängige Expertenkommission überprüft und angepasst werden. Die Linke fordert gar 10 Euro pro Stunde.

CDU und CSU lehnen zwar weiterhin einen gesetzlichen Mindestlohn ab, haben sich aber für eine allgemein verbindliche Lohnuntergrenze ausgesprochen. Dort, wo ein tarifvertraglich festgelegter Lohn nicht existiert oder die Tarifbindung unter 50 Prozent liegt, soll eine paritätisch besetzte Kommission aus jeweils sieben Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern unter Leitung eines Schlichters eine verbindliche Lohnuntergrenze festlegen. Dabei soll es auch möglich sein, nach Regionen zu differenzieren.

Der CDU/CSU-Vorschlag lässt zwar zunächst offen, auf welchem Niveau die Lohnuntergrenze fixiert wird. Doch ist auch dieses Modell dem Grunde nach untauglich und voller Risiken: Legt die Kommission eine eher niedrige Lohnuntergrenze fest, würde das zwar wenig schaden, aber auch wenig bewirken. Entscheidet sie sich für eine eher hohe Untergrenze, was wahrscheinlicher ist, würde das viele Arbeitsplätze vernichten.

Der Niedriglohnsektor ist gewachsen, weil die Arbeitsmarktpolitik erfolgreich war

Die Befürworter von Mindestlöhnen – gleich welcher Couleur – weisen darauf hin, dass der Niedriglohnsektor seit Mitte der 90er Jahre deutlich gewachsen ist und dass schlecht bezahlte, atypische und prekäre Beschäftigung seither rasant zugenommen hat. Dem gelte es, Einhalt zu gebieten. Richtig daran ist der Befund: Die Zahl der Niedriglohn-Jobs ist in der Tat lange Zeit gestiegen. Bis zum Jahre 2007. Danach ist ihr Anteil wieder gesunken. Falsch und fahrlässig ist es dagegen, die höhere Zahl der Niedriglohn-Jobs einseitig negativ zu bewerten und daraus politischen Handlungsbedarf abzuleiten.

Denn der Niedriglohnsektor ist nicht gewachsen, weil die Wirtschaft die Löhne gedrückt hat. Er ist gewachsen, weil viele – vor allem gering qualifizierte Arbeitslose – durch die Agenda 2010 motiviert wurden, Arbeit aufzunehmen und dann auch erfolgreich in den Arbeitsmarkt integriert werden konnten. Die maximale Bezugsdauer von Arbeitslosengeld wurde gekürzt, die Arbeitslosenhilfe abgeschafft und mit Hartz IV ein Lohnzuschusssystem eingerichtet, das eine Arbeitsaufnahme attraktiver gemacht hat.

Mit diesen Maßnahmen hat die rot-grüne Bundesregierung seinerzeit eine geradezu wundersame Entwicklung auf dem deutschen Arbeitsmarkt eingeleitet. Seit 2005 ist die Zahl der Arbeitslosen von über fünf auf drei Millionen gefallen, im Saarland von 57.000 auf derzeit 35.000. Viele Geringqualifizierte haben einen Arbeitsplatz gefunden. Vielfach zwar zu eher niedrigen Löhnen, doch mit der Chance, sich in Arbeit zu qualifizieren und so die Einkommenschancen zu verbessern. Die Ausweitung des Niedriglohnsektors spiegelt also letztlich wider, dass die Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik hierzulande bemerkenswert erfolgreich war. Viele Länder beneiden uns um dieses „Wunder auf dem Arbeitsmarkt“ – gerade auch jene Länder, die Mindestlöhne eingeführt haben und heute unter einer hohen Problemgruppen-Arbeitslosigkeit leiden: Frankreich, Spanien oder Großbritannien etwa. Wir sollten die mühsam erreichten Erfolge durch eine arbeitsmarktpolitische „Rolle rückwärts“ jetzt nicht wieder zunichte machen?

Die meisten Aufstocker wird es auch bei Mindestlöhnen noch geben

Ein weiteres Argument für Mindestlöhne lautet: Die Arbeitgeber, die Niedriglöhner beschäftigen, beuten letzten Endes den Staat aus. Denn die Arbeitnehmer seien nur deshalb bereit, niedrige Löhne zu akzeptieren, weil ihre Arbeitseinkommen durch staatliche Zuzahlungen aufgestockt werden. Der Steuerzahler subventioniere so die Unternehmen. Doch auch dieses Argument sticht nicht. Denn niedrigere Löhne bedingen bei den derzeit gültigen Hinzuverdienstregeln auch Abstriche bei den Einkommen: Aufstocker bekommen für jeden Euro weniger Lohn nur 80 Cent Arbeitslosengeld. Das dürfte die Bereitschaft zum Lohnverzicht auf eine harte Probe stellen.

Apropos aufstocken: Derzeit gibt es deutschlandweit rund 1,3 Millionen Aufstocker. Davon sind allerdings nur etwa 400.000 Vollzeit beschäftigt. Das heißt im Klartext: Den Großteil der Aufstocker würde es auch bei Mindestlöhnen von 8,50 Euro noch geben. All jene, die nur Teilzeit arbeiten (z. B. allein erziehende Mütter) oder Familien, in denen nur ein Elternteil arbeitet, wären auch bei Mindestlöhnen in dieser Höhe noch auf ergänzende Staatshilfe angewiesen.

Bleibt die sozial-ethische Argumentation: Es sei eine Frage der Würde, wird gesagt, dass ein vollbeschäftigter Arbeitnehmer seinen Lebensunterhalt aus seinem Arbeitslohn bestreiten kann. Wer mag dem widersprechen. Natürlich wären auskömmliche Löhne – wie auch immer definiert - sozial wünschenswert. Doch wäre es der falsche Weg, sie qua Mindestlohn wider die Marktkräfte durchzusetzen. Denn das würde die Arbeitslosigkeit zwangsläufig nach oben treiben –und zwar gerade in der Gruppe der Geringqualifizierten.

Millionen von Arbeitsplätzen sind gefährdet

Kommen wir deshalb zur Kernfrage: Wie viele Arbeitsplätze würde ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn vernichten? Klar sein sollte zunächst, dass kein Unternehmen auf Dauer Arbeitsplätze anbieten kann und wird, die sich betriebswirtschaftlich nicht rechnen. Käme es zur Festlegung eines gesetzlichen Mindestlohns von 8,50 Euro – das entspricht Arbeitskosten von mehr als 13 Euro je Stunde -  dann würden über kurz oder lang alle Tätigkeiten entfallen, deren Wertschöpfung nennenswert unter diesen Kosten liegt. Die Zahl der gefährdeten Arbeitsplätze wäre riesig: Nach den vorliegenden Statistiken arbeiteten in 2010 rund und 22 Prozent der Beschäftigten für weniger als neun Euro brutto die Stunde. In absoluten Zahlen sind das immerhin mehr als acht Millionen. Die meisten – nahezu die Hälfte der Niedriglohnbeschäftigten – arbeiten in kleineren Betrieben mit weniger als 20 Mitarbeitern.

Gewiss werden Mindestlöhne nicht alle diese Jobs vernichten – aber wohl einen nennenswerten Teil davon. Die Entwicklung in der Industrie hat das anschaulich gezeigt: Durch die überproportionale Anhebung der unteren Lohngruppen in den 70er und 80er Jahren wurden einfache Tätigkeiten zu teuer. Die Folge: Viele Arbeitsplätze wurden in Niedriglohnländer verlagert oder durch forcierte Automatisierung wegrationalisiert. Lagerarbeiter wurden durch Hochregallager, Wachleute durch Alarmanlagen und einfache Handarbeiten durch Roboter ersetzt.

Man mag einwenden, dass sich höhere Arbeitskosten in anderen Wirtschaftsbereichen zumindest teilweise auf die Preise überwälzen lassen – in Branchen vor allem wie Handel und haushaltsorientierte Dienstleister, die eher die regionale oder lokale Nachfrage bedienen. Doch selbst wenn das gelingen würde, wären zahlreiche Arbeitsplätze gefährdet. Denn höhere Preise gehen auch dort zu Lasten der Nachfrage. Wir alle haben erlebt, wie sensibel die Kunden reagiert haben, als Gastronomiebetriebe die Umstellung auf den Euro genutzt haben, ihre Preise sprunghaft zu erhöhen. Lohnkostenbedingte Preissteigerungen hätten denselben Effekt.

Und das gilt auch für haushaltsorientierte Dienstleister – etwa Friseure, Nagelstudios, Hausmeister oder Pflegedienste. Hier verdienen viele Mitarbeiter (auch weil Trinkgelder gezahlt werden) derzeit weniger als 8,50 Euro. Würden die Arbeitskosten und Preise durch Mindestlöhne nach oben getrieben, dann würde wohl ein beträchtlicher Teil des Angebots in die Schattenwirtschaft abwandern. Dienstleistungen würden ambulant statt stationär angeboten – an Fiskus und Sozialkassen vorbei. Aufgrund des großen Brutto-Netto-Keils ist das heute schon der Fall. Durch Mindestlöhne würde die Schattenwirtschaft weiteren kräftigen Aufwind erhalten.

Bessere Qualifizierung schafft Spielraum für höhere Löhne

Es ist mithin wahrscheinlich, dass Mindestlöhne viel reguläre Beschäftigung vernichten würden. Und so stellt sich die Frage: Was hilft ein auskömmlicher Lohn, wenn allzu viele ihn nicht bekommen, weil sie de facto aus dem Arbeitsmarkt ausgegrenzt werden? Ist es da nicht weitaus sozialer, allen eine faire Chance auf Arbeit zu geben und die Einkommen – wie es derzeit geschieht – durch staatliche Hilfen aufzustocken? Ist es nicht würdevoller, wenigstens einen Teil des Lebensunterhaltes selbst zu verdienen, als ganz auf Staatstransfers angewiesen zu sein? Genau dies aber ist realistisch betrachtet die Alternative.

Wer höhere Löhne am unteren Ende der Lohnskala will, ohne die Arbeitslosigkeit nach oben zu treiben, der muss sich für einen anderen, für einen marktkonformen Weg stark machen: für eine umfassende Qualifizierungsoffensive für Geringqualifizierte. Hier gibt es bereits vielversprechende Ansatzpunkte und Initiativen, die sich intensivieren und ergänzen lassen. Insbesondere müssen wir dafür Sorge tragen, dass möglichst alle jungen Menschen die Schulen mit einem Abschluss verlassen und dann auch eine berufliche Ausbildung erfolgreich abschließen. Dafür, aber auch für die gezielte Qualifizierung von Langzeitarbeitslosen, engagieren sich die IHKs.

Unterstützend wirkt der demografische Wandel. Wenn die Zahl der Menschen im arbeitsfähigen Alter von Jahr zu Jahr abnimmt, dann werden Arbeitskräfte zunehmend knapp. Dadurch entstehen neue Spielräume für höhere Löhne. Profitieren werden zwar zunächst und vor allem die qualifizierten Fachkräfte. Aber auch die Chancen der weniger Qualifizierten werden sich verbessern. Darauf und auf eine bestmögliche Qualifizierung für alle sollten wir setzen. Denn das ist Medizin ohne unerwünschte Nebenwirkungen.