Länger arbeiten!
Von Volker Giersch Kommentar
01.10.2003
Die finanziellen Auswirkungen auf die soziale Sicherung sind immens. Ohne grundlegende Strukturreformen würden die Beitragssätze für Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung von heute 42 Prozent auf über 55 Prozent in 2030 steigen. Ein ökonomisches Desaster wäre die Folge. Bereits der aktuelle Beitragssatz ist viel zu hoch. Er vernichtet Arbeitsplätze und treibt viele Menschen in die Schattenwirtschaft.
Mehr Jahre im Leben...
All dies mündet in der Erkenntnis: Wir Deutschen müssen künftig deutlich länger arbeiten als heute. Es sei denn, wir würden einen radikalen Abbau der Sozialleistungen in Kauf nehmen. Kaum jemand will das. Politisch durchsetzbar wäre es ohnehin nicht.
Die Rente mit 67 wird dabei nicht einmal ausreichen. Selbst wenn wir „Rürup“ eins zu eins umsetzten, würde der Beitragssatz von 19,5 auf 22 Prozent steigen. Dies bedeutet: Wir müssen an weiteren Stellschrauben drehen. Bei den Ausbildungszeiten etwa. Sie sind in Deutschland viel zu lang. Insgesamt dauert die Erstausbildung hierzulande mehr als 17 Jahre. In den USA sind es nur 15, in Großbritannien gar nur 14,6 Jahre.
Mit der Verkürzung der Gymnasialzeit auf acht Schuljahre hat das Saarland hier einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung gemacht. Andere Bundesländer werden wohl bald nachziehen. Weitere Schritte, wie ein früherer Lernstart in Vorschulen, die Herabsetzung des Einschulungsalters und die Verkürzung der Studiendauern an unseren Hochschulen, müssen folgen.
... mehr Stunden im Jahr
Auch bei der Jahresarbeitszeit wird es eine Trendumkehr geben müssen. Mit 1557 Stunden rangieren wir Deutschen zurzeit in der Länderskala ganz hinten. Bei der Wochenarbeitszeit liegen wir am unteren Ende, bei Urlaubs- und Feiertagen an der Spitze. Die Engländer arbeiten immerhin rund 1700, die Japaner mehr als 1800 und die Amerikaner sogar über 1900 Stunden im Jahr.
Die stetige Verkürzung der Wochenarbeitszeit und die Verlängerung des Urlaubs erfolgten auf massiven Druck insbesondere der Gewerkschaften. Getrieben wurden sie von dem Irrglauben, das Volumen an Arbeit sei quasi vorgegeben. Man müsse es – um die Arbeitslosigkeit zu senken – nur gerecht auf möglichst viele Köpfe verteilen.
Die Folgen waren absehbar: Die Verkürzung der Arbeitszeit hat die Arbeit faktisch verteuert. Menschliche Arbeit wurde durch Maschinen ersetzt. Die Insolvenzen stiegen auf Rekordniveau. Der Exodus von Arbeitsplätzen ins Ausland hat sich beschleunigt. Das Arbeitsvolumen ist entsprechend – wie von fast allen Ökonomen vorausgesagt – gesunken. Die Arbeitslosigkeit nähert sich der Fünf-Millionen-Marke.
Höhere Sozialkosten...
Die gescheiterten Streiks in der ostdeutschen Metallindustrie geben Anlass zur Hoffnung, dass eine Wende zur Vernunft – und damit auch zu längeren Arbeitszeiten – jetzt möglich ist. Die Bundesländer schaffen bereits Fakten. Sie lassen ihre Beamten 40 Stunden oder mehr pro Woche arbeiten – ohne Lohnausgleich versteht sich. Jetzt müssen die Tarifpartner nachziehen.
Die Wirtschaftsverbände weisen schon lange darauf hin, dass das Arbeitsvolumen keineswegs konstant ist, sondern mit der Höhe der Arbeitskosten – oder genauer: der Lohnstückkosten – schwankt. Letztere sind zwar auch hierzulande seit 1995 leicht gesunken, aber bei weitem nicht so stark wie in der Eurozone. Die negative Folge: Unsere Exportwirtschaft hat auf den Weltmärkten an Boden verloren. Das ist bedauerlich. Denn es ging mit beträchtlichen Arbeitsplatzverlusten einher. Doch müssen diese Verluste nicht von Dauer sein. Das verlorene Terrain lässt sich zurückgewinnen, wenn wir die Arbeitskosten wieder absenken. Da eine Kürzung der Bruttolöhne hierzu faktisch ausscheidet, bleibt als eleganter Weg nur die Verlängerung der Arbeitszeiten.
... auf mehr Arbeitsstunden verteilen!
Modellrechnungen zeigen, dass schon eine geringe Verlängerung der Arbeitszeit beträchtliche Wirkung hätte. Im nächsten Jahr können wir es dann auch praktisch testen. Da ungewöhnlich viele Feiertage aufs Wochenende fallen, wird jeder Beschäftigte rechnerisch 3,3 Tage mehr arbeiten. Nach Schätzungen der Forschungsinstitute wird sich allein daraus ein zusätzliches Wachstum von 0,6 Prozent ergeben. Man bedenke: Bis zu den Arbeitszeiten der Amerikaner fehlen uns umgerechnet gut 44 Tage.
Würden wir uns verbindlich darauf verständigen, die Arbeitszeiten binnen eines Jahrzehnts entsprechend zu verlängern, dann wäre Deutschland rasch wieder die Wachstumslokomotive in Europa. Die Sozialbeiträge ließen sich – je Arbeitsstunde gerechnet – spürbar absenken. Das Arbeitsvolumen würde steigen, die Arbeitslosigkeit sinken. Und: Wir könnten die soziale Sicherung auch in den kommenden Jahrzehnten auf befriedigendem Niveau fortführen.