Mehr Föderalismus wagen
Von Volker Giersch
Kommentar
01.12.2001
Die Gründe für die unzureichende Reformdynamik sind zum Teil wohl mentaler Natur: Offensichtlich neigen wir Deutschen dazu, bei jeder Veränderung politischer, wirtschaftlicher oder auch technologischer Art in erster Linie die Risiken und erst in zweiter Linie die Chancen zu sehen. Wir diskutieren selbst bescheidenste Reformvorhaben so, als hinge das Schicksal unseres Landes davon ab – siehe Rechtschreibereform, Ladenschlussgesetz und Gewerbesteuer.
Nicht minder gewichtig sind Gründe politisch konstitutioneller Art - genauer: Gründe, die sich aus der schrittweisen Aushöhlung des Föderalismus in unserer bundesstaatlichen Verfassung ableiten.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Föderalismus ist grundsätzlich etwas Gutes. Er ermöglicht nicht nur eine wirksame Begrenzung staatlicher Macht durch Kompetenzzuweisung an eine weitere politische Ebene – eben jene der Länder! Er eröffnet zudem - im Gegensatz zum Einheitsstaat - die Möglichkeit, politischen Wandel in einem schöpferischen Ideen- und Gestaltungswettbewerb zwischen den Ländern zu gestalten. Diese können in ihrem Verantwortungsbereich unterschiedliche Politikentwürfe entwickeln, umsetzen und auf ihre Praxistauglichkeit testen. Lösungen, die sich im Wettbewerb als überlegen erweisen, werden sich über kurz oder lang in der Länderpolitik durchsetzen. So gesehen bietet ein föderaler Bundesstaat die aussichtsreiche Chance, Politik in einem breit gefächerten Prozess von Versuch und Irrtum zu gestalten.
Innige Kompetenzverflechtung...
Voraussetzung für einen lebendigen föderalen Wettbewerb ist freilich, dass die Verfassung Bund und Ländern klar definierte Verantwortungen, Entscheidungskompetenzen und auch Finanzquellen zuweist. In der ursprünglichen Fassung unseres Grundgesetzes vom 23. Mai 1949 war dies auch so angelegt: Das Grundgesetz enthielt klare Regelungen, nach denen Bund und Länder weitgehend eigenverantwortlich und eigenständig agieren konnten. Zugleich wies es den Ländern eigene Einnahmequellen zu. Es übertrug ihnen die Gesetzgebungs- und Ertragshoheit über die Einkommen- und Körperschaftssteuer sowie über die meisten Verkehrssteuern. Dem Bund fiel die Hoheit über die Zölle und die meisten Verbrauchssteuern zu.
Leider ist dieses Trennsystem durch die Finanzreformen von 1955 und 1969 schrittweise in ein komplexes Verbundsystem überführt worden. Heute werden rund drei Viertel des Steueraufkommens gemeinsam von Bund und Ländern vereinnahmt. Damit geht einher, dass die wichtigsten Steuergesetze nicht nur der Zustimmung des Bundestages, sondern auch der des Bundesrates bedürfen. Welch lähmende Effekte diese Politikverflechtung mit sich bringt, mussten wir mehrfach schmerzlich erfahren – auch in Form parteitaktischer Reformblockaden durch den Bundesrat. Der Übergang vom Trenn- und Verbundsystem hatte überdies zur Folge, dass die Länder heute praktisch keine eigenständigen Einnahmequellen mehr haben.
Dem föderalen Wettbewerb abträglich war und ist ohne Frage auch die ausufernde konkurrierende Gesetzgebung des Bundes. In der ursprünglichen Fassung des Grundgesetzes war diese zwar vorgesehen. Sie sollte aber laut Grundgesetz auf jene Bereiche beschränkt bleiben, in denen die Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit bundeseinheitliche Regelungen erfordert. In der Praxis bewirkte diese Bestimmung, die als Sperre gegen eine ausufernde Bundesgesetzgebung gedacht war, leider das genaue Gegenteil: Sie diente als Einfallstor für die Inanspruchnahme zusätzlicher Kompetenzen durch den Bund. Im Ergebnis verbleibt den Ländern auf vielen Gebieten kaum noch Raum für eigenständiges politisches Handeln.
Die Rahmengesetze des Bundes haben darüber hinaus den Gestaltungsraum der Länder weiter eingeengt: Das Beamtenrechtrahmengesetz und das Hochschulrahmengesetz etwa reduzieren den Spielraum für föderalen Wettbewerb gerade auf Gebieten, auf denen er besonders wünschenswert und förderlich wäre.
... lähmt föderalen Wettbewerb
Ausdruck der innigen Vermengung von Bundes- und Länderkompetenzen war zudem auch die Einführung der „ Gemeinschaftsaufgaben“ im Jahre 1969. Seither kann kein Bundesland mehr selbständig entscheiden, wie viele Hochschulen es bauen oder mit welchen Instrumenten es die Schaffung neuer Arbeitsplätze fördern will.
Besonders zu bedauern ist vor diesem Hintergrund, dass die Länder nicht einmal den Gestaltungsraum, der ihnen noch verblieben ist, wirklich nutzen: In der Bildungspolitik etwa haben sie sich durch freiwilliges Streben nach möglichst viel Einheitlichkeit und gemeinsamen Normen weitgehend selbst gelähmt. Inbegriff dieser Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners ist die Kultusministerkonferenz geworden; ihr bescheinigen Spötter eine ähnlich hohe Innovationsdynamik wie der sacra rota in Rom.
Trauriges Fazit: Föderalismus heißt in Deutschland heute kaum noch regieren in Saarbrücken oder Düsseldorf, sondern mitbestimmen in Berlin oder Brüssel. Zupackendes Regieren auf Bundesebene gibt es ebenso wenig wie Reformimpulse durch föderalen Wettbewerb. Im Gegenteil: Politische Entscheidungen sind komplexer und schwieriger denn je. Die Reformfähigkeit ist eher geringer als in einem zentralistischen Einheitsstaat.
Mehr Föderalismus wagen: Zurück zu den Ursprüngen
Konsens besteht darin, dass wir in Deutschland künftig wieder eine höhere Reformdynamik brauchen - auf Bundes- ebenso wie auf der Landesebene. Es ist deshalb höchste Zeit, dass wir hierzulande endlich wieder mehr Föderalismus wagen. Dazu gilt es, den Ländern wieder klar voneinander abgrenzte Aufgaben, Entscheidungsbefugnisse und Finanzkompetenzen zuzuweisen – so wie es die Väter unseres Grundgesetzes vor mehr als fünf Jahrzehnten mit viel Klugheit bereits einmal getan hatten. In diesem Sinne heißt die Maxime: Zurück zu den Ursprüngen.