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Mehr föderalen Wettbewerb wagen!

Volker Giersch zur anstehenden Reform des Föderalismus
Kommentar

01.09.2004

Deutschland leidet seit vielen Jahren an einem chronischen Mangel an Reformdynamik. Die Gründe dafür sind zu einem guten Teil politisch konstitutioneller Art: Wir haben unsere föderale Grundordnung zunehmend ausgehöhlt, indem wir die Kompetenzen von Bund und Ländern mehr und mehr vermengt haben. In vielen Politikbereichen können die Länder nur noch sehr eingeschränkt entscheiden. Übergeordnete bundesweite Regelungen haben ihre Gestaltungskompetenz drastisch dezimiert. Stattdessen hat man ihnen auf Bundesebene umfangreiche Mitwirkungsrechte eingeräumt – nicht selten mit der unerwünschten Folge, dass der Bundesrat als Blockadeinstrument missbraucht wird. Vor diesem Hintergrund ist es gut, dass die mit Vertretern von Bund und Ländern besetzte Föderalismuskommission zurzeit Vorschläge für eine grundlegende Reform des Föderalismus erarbeitet.

Die Vorteile des Föderalismus nutzen

Ein föderaler Staat bietet gegenüber einem Einheitsstaat vor allem einen Vorteil: Er eröffnet die Chance, politischen Wandel in einem schöpferischen Ideen- und Gestaltungswettbewerb zwischen den Ländern zu vollziehen. Diese können in ihrem Verantwortungsbereich unterschiedliche Politikentwürfe entwickeln, umsetzen und auf ihre Praxistauglichkeit testen. Lösungen, die sich im Wettbewerb als überlegen erweisen, werden sich über kurz oder lang in der Länderpolitik durchsetzen. Untaugliche Konzepte werden sich als Irrwege entpuppen und in der Versenkung verschwinden. So gesehen bietet ein föderaler Bundesstaat die aussichtsreiche Chance, Politik in einem breit gefächerten Prozess von Versuch und Irrtum zu gestalten.

Voraussetzung dafür ist freilich, dass die Verfassung Bund und Ländern klar definierte Verantwortungen, Entscheidungskompetenzen und auch Finanzquellen zuweist. In der ursprünglichen Fassung unseres Grundgesetzes vom 23. Mai 1949 war das der Fall: Das Grundgesetz enthielt klare Regelungen, nach denen Bund und Länder weitgehend eigenverantwortlich und eigenständig agieren konnten. Zugleich wies es den Ländern eigene Einnahmequellen zu – insbesondere die Gesetzgebungs- und Ertragshoheit über die Einkommen- und Körperschaftssteuer.

Leider ist das ursprüngliche Trennsystem durch die Finanzreformen von 1955 und 1969 schrittweise in ein komplexes Verbundsystem überführt worden. Heute werden rund drei Viertel des Steueraufkommens gemeinsam von Bund und Ländern vereinnahmt. Damit geht einher, dass die wichtigsten Steuergesetze der Zustimmung des Bundesrates bedürfen. Die lähmenden Effekte dieser Politikverflechtung mussten wir mehrfach bereits schmerzlich erfahren.

Kompetenzen entflechten

Dem föderalen Wettbewerb abträglich war und ist ohne Frage auch die ausufernde konkurrierende Gesetzgebung des Bundes. Sie hat den Handlungsspielraum der Länder weitaus stärker eingeengt, als es die Mütter und Väter des Grundgesetzes damals im Sinn hatten.

Hinzu kommen die Rahmengesetze des Bundes – das Beamtenrechts- und das Hochschulrahmengesetz. Sie reduzieren den Spielraum für föderalen Wettbewerb gerade auf Gebieten, auf denen er besonders wünschenswert und förderlich wäre. Insbesondere das Hochschulrahmengesetz hat sich nicht bewährt. Es greift zu tief in die Länder- und Hochschulautonomie ein (z. B. Verbot von Studiengebühren).

Ausdruck der innigen Vermengung von Bundes- und Länderkompetenzen war zudem auch die Einführung der „ Gemeinschaftsaufgaben“ im Jahre 1969. Seither kann kein Bundesland mehr selbständig entscheiden, wie viele Hochschulen es bauen oder mit welchen Instrumenten es die Schaffung neuer Arbeitsplätze fördern will.

Trauriges Fazit: Föderalismus heißt in Deutschland heute kaum noch regieren in Saarbrücken oder Düsseldorf, sondern mitbestimmen in Berlin oder Brüssel. Zupackendes Regieren auf Bundesebene gibt es ebenso wenig wie Reformimpulse durch föderalen Wettbewerb.

Mehr Gestaltungsspielraum für die Länder

Wenn wir in Deutschland künftig wieder eine höhere Reformdynamik wollen, müssen wir künftig mehr Föderalismus wagen. Das setzt voraus, dass unser Grundgesetz den Ländern klar von der Bundesebene abgrenzte Aufgaben, Entscheidungsbefugnisse und Finanzkompetenzen zuweist. Der Reformkurs muss in diesem Sinne heißen: Vom Beteiligungsföderalismus zurück zum Gestaltungsföderalismus. Konkret sind folgende Reformschritte nötig:

Erstens ist die Rahmengesetzgebung des Bundes wieder aufzuheben. Die darin enthaltenen Kompetenzbereiche sollten möglichst weitgehend in die Zuständigkeit der Länder übertragen werden.
Zweitens sollten die mischfinanzierten Gemeinschaftsaufgaben wieder abgeschafft werden. Der Bund kann auch auf anderem Wege seiner Verpflichtung nachkommen, zum Ausgleich regionaler Wirtschafts- und Lebensbedingungen beizutragen.
Drittens sollte die konkurrierende Gesetzgebung sowohl in ihrer Struktur als auch hinsichtlich der ihr zugeordneten Politikfelder zugunsten der Länder reformiert werden.
Viertens sind die Mitwirkungsrechte des Bundesrates so zu begrenzen, dass das Einspruchsrecht wieder der Regelfall und das Zustimmungsrecht die Ausnahme wird.
Fünftens ist die föderale Finanzverfassung mit dem Ziel zu reformieren, den Ländern einen eigenen finanziellen Handlungsspielraum zurückzugeben.
Sechstens schließlich ist der Länderfinanzausgleich so weiterzuentwickeln, dass die Länder verstärkt angereizt werden, ihre Wirtschafts- und Steuerkraft nachhaltig zu stärken.

Die Föderalismuskommission wird bis Ende des Jahres konkrete Vorschläge unterbreiten, wobei sie den Gesamtbereich der Finanzverfassung zunächst ausgeklammert hat. Bleibt zu hoffen, dass ihr Reformkonzept ähnlich klug und mutig ist, wie es die ursprüngliche Fassung des Grundgesetzes vor fünf Jahrzehnten war.