Systemwettbewerb statt Harmonisierung
IHK-Hauptgeschäftsführer Volker Giersch über die
Weiterentwicklung der EU
Kommentar
01.07.2004
Das Wichtigste: Der Europäischen Union ist es in überschaubarer Zeit gelungen, einen fast barrierefreien Binnenmarkt mit inzwischen rund 455 Millionen Verbrauchern zu schaffen. Die Zollbarrieren sind gefallen. Die gemeinsame Währung erspart den Unternehmen überflüssige Transaktionskosten. Und, was am meisten zählt: Die Unternehmen müssen ihre Produkte nicht mehr den unterschiedlichen nationalen Rechtsnormen der Mitgliedstaaten anpassen.
Kein Zweifel: Die Vollendung des Binnenmarktes und die Währungsunion haben die Position der europäischen Wirtschaft im interkontinentalen Wettbewerb mit Amerika und Asien erheblich gestärkt. Dennoch – und das gibt Anlass zur Sorge – ist Europa seit einigen Jahren der Wirtschaftsraum mit der geringsten Wirtschaftsdynamik. Da stellt sich die Frage: Was soll Europa tun, um seine Wirtschaft wieder auf einen steileren Wachstumspfad zu bringen? Und was nicht?
Ganz aktuell geht es um die Frage, ob wir weiterhin auf den Standortwettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten setzen oder stattdessen ein höheres Maß an Harmonisierung anstreben. Die Diskussion darüber entzündet sich an den niedrigen Unternehmenssteuern in mehreren Beitrittsländern. Diese Länder, so der Vorwurf, nutzen die Finanzhilfen der EU dazu, durch „ Steuerdumping“ Unternehmen anzulocken. Das sei unlauterer Wettbewerb. Die Forderung, die daran festmacht, heißt: Festlegung von Mindeststeuersätzen. Davor sollten wir uns tunlichst hüten. Denn es wäre eine gravierende Einschränkung des Standortwettbewerbs und der Einstieg in die Harmonisierung der Systeme.
Folgen wir stattdessen doch den guten Beispielen Ungarns, der Slowakei oder Tschechiens und führen auch in Westeuropa investitionsfreundliche Steuersysteme ein. Europa im Ganzen würde davon profitieren. Das Argument „Steuerdumping mit EU-Mitteln“ geht ohnehin fehl: Der Umfang der Strukturhilfen ist zu gering.
Ursprungslandprinzip sichert ungehinderten Wettbewerb
Bei der Vollendung des Binnenmarktes war die EU bisher vor allem dadurch erfolgreich, dass sie nicht auf die Schaffung eines einheitlichen Rechtsrahmens, also auf Harmonisierung, sondern auf die Einführung des Ursprungslandprinzips gesetzt hat. Nach diesem Prinzip, dem der Europäische Gerichtshof mit richtungsweisenden Urteilen zum Durchbruch verholfen hat, darf ein Produkt, das den Rechtsnormen im Lande der Herstellung entspricht, auch in den übrigen EU-Ländern auf den Markt gebracht werden. Das ermöglicht ungehinderten Wettbewerb trotz unterschiedlicher nationaler Normen. So dürfen ausländische Brauereien in Deutschland auch Bier verkaufen, das nicht dem deutschen Reinheitsgebot entspricht.
Der Anwendung des Ursprungslandprinzips haben wir es letztlich zu verdanken, dass der Binnenmarkt so schnell zustande kam. Hätte sich die EU damals für die Harmonisierung der Normen entschieden, dann hätten wir einen barrierefreien Binnenmarkt wohl heute noch nicht.
Entscheidende Impulse für die Wettbewerbsfähigkeit Europas hat auch das europäische Wettbewerbsrecht gegeben. Es hat dafür gesorgt, dass in vielen ehemals staatlich regulierten Wirtschaftsbereichen inzwischen Markt und Wettbewerb Einzug gehalten haben – in der Telekommunikation ebenso wie in der Stromwirtschaft und im Verkehrssektor. Im Ergebnis hat das viel Innovationsdynamik in diese Branchen gebracht.
Standortwettbewerb fördert politische Innovation
Für Dynamik bürgt auch der Wettbewerb zwischen Standorten. Denn er offenbart über die Erfolgsbilanz der Länder, wie tauglich oder untauglich unterschiedliche politische Konzepte sind – sei es bei den direkten Steuern, sei es bei der sozialen Sicherung oder bei Forschung und Bildung. Länder, die ihren Unternehmen und Bürgern einen attraktiveren Rahmen bieten, sind erfolgreicher als jene, die auf die falschen Konzepte setzen. Der Wettbewerb zwingt schließlich die weniger erfolgreichen Staaten die Rezepte der erfolgreichen zu übernehmen. Das kommt der Standortattraktivität ganz Europas zugute.
Wie schädlich es ist, auf Gleichmacherei statt auf Wettbewerb zu setzen, lässt sich trefflich am Beispiel Deutschland studieren. Denn ein Großteil der Probleme, unter denen wir hierzulande leiden, resultiert letztlich daraus, dass wir die Gestaltungskompetenz der Bundesländer schrittweise ausgehöhlt haben – durch eine ausufernde Gesetzgebung des Bundes, durch die Einführung der Gemeinschaftsaufgaben und durch die Bundesrahmengesetze. Im Ergebnis gibt es heute kaum noch Spielraum für einen schöpferischen Politikwettbewerb auf Länderebene. Schlimmer noch: Die Vermengung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern hatte Politikstillstand und Reformblockade zur Folge. Das Problem ist inzwischen erkannt. Und die Föderalismuskommission sucht bereits nach Wegen, die Kompetenzen wieder zu entflechten und den föderalen Wettbewerb zu beleben.
Die Fehlentwicklung, die wir in Deutschland durchlaufen haben, darf sich in Europa nicht wiederholen. Deshalb muss dort strikt die Maxime gelten: So viel Standortwettbewerb wie möglich, so wenig Harmonisierung wie nötig.