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Wider die Konsensgesellschaft

Was die Wirtschaft von der neuen Bundesregierung erwartet
Von Dr. Richard Weber, Präsident IHK Saarland
Kolumne

01.09.2002

Das einstige Wirtschaftswunderland, die langjährige „ Konjunkturlokomotive“ Deutschland ist auf dem besten Wege vom „ reichen Onkel“ zum „armen Vetter“ Europas abzusteigen. Ob bei Wachstum oder Arbeitslosigkeit, ob bei der Abgabenbelastung oder beim Bildungsniveau, unser Land findet sich stets auf den hinteren Rängen wieder. Verantwortlich dafür ist die Sklerose im Innern, kleinkariertes Besitzstandsdenken und die Reformunfähigkeit der Politik.

War die jetzige Bundesregierung nicht angetreten, um den „ Reformstau“ nach der 16-jährigen Kohl-Ära aufzulösen? Hatte sie nicht gerade dafür das Mandat der Wähler – auch vieler Unternehmer – bekommen? Kurz vor der Bundestagswahl macht keiner der Bewerber den Eindruck, das Ruder wirklich schnell und nachhaltig herumwerfen zu wollen. So werden die Wähler weiterhin im Unklaren gelassen, was sie nach dem 22. September tatsächlich zu erwarten haben.

Wie auch immer der Souverän entscheiden mag – die neue Bundesregierung wird einen Berg von Problemen zu lösen haben, den ihr die Vorgänger aus Bequemlichkeit oder Mangel an Mut hinterlassen haben. Fünf Herkulesaufgaben stehen an, um den „ kranken Mann“ Bundesrepublik langsam wieder auf den Weg der Genesung zu führen:

  1. Die Staatsverschuldung zurückführen
    Die Verschuldung allein des Bundes wird in diesem Jahr die 700 Milliardengrenze überschreiten – dies entspricht nahezu dem dreifachen des gesamten Bundeshaushalts. Fast 40 Milliarden Euro, d. h. jeder fünfte Steuer-Euro, werden nur für Zinszahlungen ausgegeben. Für dringend notwendige Investitionen stehen dagegen nicht einmal zwei Drittel dieses Betrages zur Verfügung.

    Vor diesem Hintergrund bleibt die Sanierung der Staatsfinanzen ganz oben auf der Agenda. Ohne Einschnitte in die größten Ausgabenblöcke – und das heißt bei den sozialen Leistungsgesetzen – wird diese Aufgabe nicht lösbar sein. Alle Parteien wissen dies. Nur – wer sagt dies offen und ehrlich auch den Wählern?

  2. Das Sozialsystem wieder vom Kopf auf die Füße stellen
    Die Bevölkerungspyramide der Bundesrepublik wird in wenigen Jahrzehnten ganz wörtlich „auf dem Kopf stehen“ – unser Sozialsystem tut dies schon heute: Immer weniger Beitragszahler müssen für immer mehr Leistungsempfänger aufkommen. Und der Leistungsumfang wächst ebenfalls dramatisch. Um eine Verbreiterung der Basis und um eine Reduzierung der Leistungen wird daher keine Bundesregierung herumkommen. Die Beitragslast muss dauerhaft unter 40 Prozent sinken – ohne Finanztricks und Quersubventionen wie die „Ökosteuer“. Dazu muss der Trend zur Frühverrentung schnell und nachhaltig gestoppt und durch frühere Einschulung und kürzere Ausbildungszeiten die Lebensarbeitszeit bereits am Anfang verlängert werden. Mittelfristig geht die Rechnung nur auf, wenn eine abschlagsfreie Altersrente erst ab 67 Jahren gezahlt wird.
    Parallel dazu muss der Anteil der Eigenvorsorge erhöht werden: durch Auf- und Ausbau kapitalgedeckter Anteile in der Rentenversicherung, durch höhere Selbstbehalte in der Krankenversicherung. Und solange wir nicht auch in der gesetzlichen Krankenversicherung vom Sachleistungs- zum Kostenerstattungsprinzip kommen, solange die Mehrheit der Patienten nicht einmal weiß, welche Kosten sie verursacht (geschweige denn, sich daran beteiligt) – solange kann und wird unser schwerkrankes Gesundheitssystem nicht genesen.

  3. Abgabenlast verringern, Steuersystem vereinfachen
    Mit der Steuerreform wurden erste Schritte zur Entlastung der Unternehmen eingeleitet. Nur: Im internationalen Vergleich bleibt die Bundesrepublik ein Hochsteuerland. Personengesellschaften werden benachteiligt. Das Steuerrecht ist – wieder einmal – komplizierter und unüberschaubarer geworden. Und bei der „zweiten Steuer“ – den Sozialabgaben – ist der Trend weiterhin steil nach oben gerichtet.
    Es ist ein Gebot der Verfassung, der Gerechtigkeit und der ökonomischen Vernunft, den Menschen einen größeren Teil von dem zu lassen, was sie erarbeitet haben. Da helfen nur grundlegende Reformen (siehe oben) mit drastischen Ausgabenkürzungen – eben weniger Staat und mehr private Vorsorge. Und zur Vereinfachung des Steuerrechts liegen genügend durchdachte Vorschläge auf dem Tisch – zum Beispiel von der Reformkommission um Prof. Kirchhoff. Es wäre einen Versuch wert, einmal zu testen, ob absolute Besitzstandswahrung denn tatsächlich das oberste Verfassungsgebot der Bundesrepublik ist.

  4. Den Arbeitsmarkt entfesseln
    Der deutsche Arbeitsmarkt zählt zu den am stärksten regulierten Arbeitsmärkten weltweit – es ist schwieriger, einen Arbeitsvertrag aufzulösen als eine Ehe. Die derzeitige Regierung hat die Handlungsspielräume weiter eingeschränkt: durch Verschärfung des Kündigungsschutzes bei kleinen Unternehmen, durch die Neuregelung der 630-DM-Jobs und den Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit, durch restriktive Regelungen für befristete Arbeitsverhältnisse, das Gesetz über die Scheinselbstständigkeit und die Novelle des Betriebsverfassungsgesetzes. Die Wirtschaft erwartet, dass diese Bevormundung von Unternehmern und Mitarbeitern wieder zurückgenommen wird. Das wird aber nicht ausreichen. Die Unternehmen brauchen, um im Wettbewerb bestehen zu können, flexiblere Arbeitszeiten und eine „atmende“ Lohnpolitik durch erleichterte betriebliche „Bündnisse für Arbeit“. Gesetzliche Vorschriften sollten daher mit Experimentierklauseln versehen werden, um so auf einzelvertraglicher Basis neue Wege gehen zu können.

    Schließlich müssen die Anreize zur Arbeitsaufnahme verstärkt, die Aufgaben der Arbeitsverwaltung stärker auf die Vermittlung konzentriert werden. Die ersten Vorschläge der „ Hartz-Kommission“ waren dazu eine hervorragende Diskussionsgrundlage. Die Wirtschaft erwartet, dass eine neue Bundesregierung auf dieser Grundlage schnelle Entscheidungen trifft.

  5. Mehr Föderalismus wagen
    Viele Probleme ließen sich leichter lösen – oder würden gar nicht erst entstehen – wenn Entscheidungen „ortsnäher“, auf nachgeordneten Ebenen – getroffen werden könnten und müssten. Wenn den Ländern und Gemeinden mehr Verantwortung und die dazu notwendige Finanzautonomie (zurück)gegeben würden. Wenn es statt Zentralisierung und Gleichmacherei mehr Wettbewerb zwischen Kommunen und Ländern gäbe – Wettbewerb um die besseren Ideen und die besseren Köpfe. Dazu brauchten wir „nur“ eine Entflechtung der Gemeinschaftsfinanzierungen, eine Einschränkung der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes und mehr Steuerhoheit für Länder und Gemeinden.
Eines steht fest: Die vorgeschlagene Therapie wird keinen Jubel auslösen. Ihre Umsetzung verlangt von der neuen Bundesregierung Überzeugungskraft und Führungsstärke. Von wohlfeilen Wahlversprechen werden sich die Unternehmer wohl kein weiteres Mal täuschen lassen.